Johannes Anders
Musik - Journalist

Donaueschinger Musiktage 2002:

Elektronische SWR-Jazz-Session

So extrem schieden sich die Geister kaum je bei einer SWR-Jazz-Session, und das bei allen Besuchergruppen, quer durch die Reihen des Jazz- und erstaunlicherweise auch des E-Musik-Publikums, soweit es überhaupt erschienen war.

Für die einen war die Performance des vom neuen Leiter der SWR-Jazzredaktion, Reinhard Kager (siehe J’N’M, Nr.4, Seite 10), eingeladenen Electronic-Duos Marina Rosenfeld (turntables/acetate records), und Ikue Mori (drum machines, powerbook), eine unstrukturierte, chaotische, zufällig wirkende Ansammlung von Ton- und Geräuschpartikeln, für andere, vor allem diejenigen, denen heutige elektronische Kompositionen sowie der ganze Bereich der Mix-, Remix-, Sampling- und DJ-Kultur kein Neuland mehr sind, bedeutete der Auftritt der beiden ein spannendes, hochinteressantes Hörvergnügen und das auch deshalb, weil auf vordergründige, plakative Effekte verzichtet wurde. Natürlich gab es stellenweise auch archaisch wirkende Klangballungen; vorherrschend war aber ein deutlich spürbares, sensibles aufeinander Eingehen, miteinander Korrespondieren, ein kommunikatives und kollektives Improvisieren mit den immensen dynamischen wie klanglich-elektronischen Möglichkeiten, Programmen und Strukturfragmenten. Und genau diese improvisatorischen Elemente waren die Klammer zum freien Jazz und der eigentlich nicht mehr ganz zeitgemässen Bezeichnung Jazz-Session. Dass die beiden auch eine visuelle Wirkung erzielten - hier die Japanerin, die äusserlich völlig ruhig die vielfältigsten Sounds und Rhythms aus ihrem Notebook zauberte, dort die Amerikanerin, die mit gestischen und tänzerischen Bewegungen an den verschiedenen Turntables und mit ihren selbstgefertigten LP’s hantierte – das machte diesen Auftritt zusätzlich interessant.

Nach der Pause kam dann der „Hammer“, die ununterbrochen fast zweistündige „Radio Fractal – Beat Music“ des österreichischen Komponisten, Keyborders, Elektronikers und Improvisators Wolfgang Mitterer, der bereits letztes Jahr mit der spannenden Uraufführung seines Konzerts für Klavier, Orchester und Electronics – mit dem SWR-Sinfonieorchester unter Johannes Kalitzke, dem an der Musikhochschule Basel lehrenden Tiroler Pianisten Thomas Larcher, und dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR unter der Klangregie des Schweizers André Richard – beim Eröffnungskonzert der Musiktage auf grosse Beachtung stiess. Der lautstarken, durch stampfende Beats und wilde Improvisationen geprägten Performance „Radio Fractal...“ liegt ein strukturelles Gerüst zugrunde, das auf der Basis eines exakt 116 Minuten dauernden Timecodes sowie einem vorgefertigten Zuspielband, das in Mehrkanaltechnik über alle im Raum befindlichen Lautsprecher kreist, genaue Spielanweisungen für die sieben vorwiegend aus Österreich stammenden Musiker enthält: Dynamische Vorschriften, Vorgaben der Beatstruktur, Bestimmungen des jeweiligen Solisten. Es bleibt jedoch der improvisatorischen Phantasie überlassen, was die einzelnen Musiker dann spielen. Was jedoch Wolfgang Mitterer, Erdem Tunakan und Patrick Pulsinger, electronics, Max Nagl, bss, John Schröder, el-g, Herbert Reisinger, dr, und dieb 13, turntables, dem Publikum entgegenschleuderten, war nicht nur eine Art grossformatige, breiter gefächerte, zuweilen aber bis zur Hörgrenze reichende Fortsetzung des vorangegangenen, sensiblen Duos, es bekam mit seinen hämmernden Rhythmen und den wellenförmigen, infernalischen Sound- und Noise-Ballungen je länger je mehr etwas Gleichförmiges, ja zuweilen Gewalttätiges, dem sich viele Besucher nicht bis zum Schluss aussetzen mochten.    

Dass sich die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation, akustischem wie elektronisch gesteuertem, instrumentalen Spiel, von  Live-Elektronik und vorgefertigtem Material mehr und mehr verwischen, ja irrelevant werden, und etwa das Notebook mit seinen riesigen Speicher- und Einsatzmöglichkeiten für real wie elektronisch erzeugte Soundfiles weitere, ungewohnte Bereiche improvisatorischen Spiels öffnet, zeigte nicht nur diese neuartige „SWR-Jazz-Session“, sondern zum Beispiel auch das Konzert unter dem Motto „Musiksprechen / Performance / Video / Elekronik“, mit Kompositionen etwa von Michal Netjek, Michael Lenz/Zoro Babel, Jennifer Walshe und Josef Anton Riedl, wo man immer wieder den Eindruck bekam, hier würden Freejazz-Improvisationen, Rhythmuslinien und Fragmente freien Spiels notationsmässig so fixiert, dass ein kompositorischer Rahmen entsteht, der diese Musik reproduzierbar macht.

Johannes Anders

 

© JAZZ 'N' MORE - 6/2002
©Foto: Hans Kumpf



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