Johannes Anders
Musik - Journalist

In die Pfanne gehauen: „Inside Out“ - 5:1

Ein Kritiken-Vergleich

Von Johannes Anders

Dass Musikarten und Spielformen, auch wenn sie zweifelsfrei auf hohem Niveau sind, trotzdem gewisse Beurteilungvarianten auslösen können, ist eigentlich eine normale Sache, wenn man gezielt Kritiken zu einem bestimmten Thema in den Medien miteinander vergleicht. Wenn jedoch in einer Reihe von Kritiken zum gleichen Objekt bei fünf Beurteilungen der Grundton durchgehend positiv ist und nur eine krass in die Gegenrichtung zielt, dann ist anzunehmen, dass es sich bei dieser einen um einen klaren Fehlschuss oder eine Protestaktion handelt, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei den fünf anderen Schreibern nicht um irgendwen, sondern um namhafte Schweizer Vertreter ihres Fachs handelt. 

Im vorliegenden Fall geht es um das im September 2001 erschienene ECM-Album „Inside Out“ des Trios Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette, aufgenommen live im Juli 2000 in der Londoner Royal Festival Hall. Nach dem sich die drei fast 20 Jahre lang auf faszinierend facettenreichen Erkundungsreisen dem riesigen Reservoir amerikanischer Standards  gewidmet hatten, tauchen sie hier, bis auf den Standard „When I Fall In Love“, (wieder) in das weite Feld intuitiven, frei improvisierten Kollektivspiels ein und loten neue Formen spontanen Interplays aus.

„Abenteuerliche Umwege“

Unter dem Titel „Rhapsodische Freiheit“ konnte man in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 1.11.01 eine erwartungsgemäss um Differenzierung bemühte Beurteilung lesen: Nach dem der Kritiker „in den Spontan-Kompositionen der langlebigen Formation (...) oft einen Hang zu bewährten Mitteln und Klängen“ feststellt, ergänzt er weiter unten: „Überzeugend nimmt sich die neue Freiheit des Trios aber in jenen Passagen aus, in denen fast ganz auf harmonische und melodische Klischees verzichtet wird (...) sowie in jenen stupenden Momenten, in denen Kollaboration am Gesamtklang belohnt wird durch gleichsam hypnotische Kraft...“. - In der „Weltwoche“ vom 15.11.01 wird auf die „unerhörte Beharrlichkeit und Konsequenz“ hingewiesen, mit der sich Jarrett mit Peacock und DeJohnette „der Erforschung des kollektiven amerikanischen Unterbewusstseins in Form zahlloser Songs aus dem sogenannten Great American Songbook“ gewidmet hat. (...) „Jarrett benutzte die Standards nie als blossen Vorwand zur eigenen Prachtentfaltung“, sondern er nahm, liest man, „die Struktur der Vorlagen ernst (...) weitete sie aus bis an die äussersten Grenzen, aber sie war immer noch zu erkennen“. Vom bereits erwähnten Standard abgesehen, „bewegen sich die drei jenseits thematischer Vorgaben, aber keinesfalls formlos, in einem Meta-Innenraum aus formulierten, also umgekehrten, je eigenen Innenräumen. Und dann, wow“, ist weiter zu lesen, „passiert Jarrett-Peacock-DeJohnette wie ein Fieberanfall der Blues, und zwar in seiner ganzen phänomenalen Unfraglichkeit, als Gefühl mehr denn als Form. Auf abenteuerlichen Umwegen stellt sich das Einfachste ein“. Es setzt „einen glücklichen Abend voraus“, wenn das im Kollektiv so funktioniert, stellt der Autor fest (und um einen derartigen Abend hat es sich mit Sicherheit auch gehandelt! ja).

„Schwereloses Schweben

In der Oktober/November-Ausgabe Nr.5/2001 von „JAZZ ‘N’ MORE“ ist in Bezug auf Jarretts „‘freien‘ Jazz!“ davon die Rede, (...) „einen ständigen Strom unterschiedlicher Ideen, Tempi und Farben in totaler Übereinstimmung mit den Mitmusikern fliessen zu lassen, idiomatische Gedanken und Nuancen, die überall im Jazz zu finden sind, musikalisch formal zwar frei, aber immer logisch miteinander zu verbinden und dabei die Ästhetik nie zu verleugnen“ (Höchstbewertung 5 Noten). Insbesondere dieser Schreiber steht abseits jeglichen Verdachts, zum Kreis notorischer Jarrett-Bejubler zu gehören, was man auch nicht vom Kritiker des Zürcher Tages-Anzeigers behaupten kann. Unter dem Titel „Schwereloses Schweben“ stand am 9.1.2002  im TA u.a. zu lesen: „Mit ‚Inside Out‘, (...) wenige Tage nach dem grossartigen Konzert in Montreux, geht Jarrett einen neuen Weg. Er stülpt dem Trio quasi seine Solokonzeption des freien Suchens und Rhapsodierens über“. Und weiter: „Nicht immer (...) werden die drei im ersten Anlauf fündig (...) aber immer wieder gibt es auch lange Passagen grossartiger Eingebung, wo die Musik abhebt, selten ins heftige Swingen, aber oft ins schwerelose Schweben kommt“. Und in der letzten Musikbeilage der Zürcher „Wochenzeitung“ (WoZ) vom 22.11.2001, wo man vielleicht eher eine Tendenz in Richtung prononciert kritischer Beurteilung erwartete, wurde der  „Inside Out“-Rezension gar eine dreiviertel Seite eingeräumt: „Meisterlich, wie das Trio grosse Spannungsbögen aufbaut und unterschiedliche Stimmungen ausleuchtet, wie es von vehement vorgetragenen musikalischen Statements zu feinsten Verästelungen übergeht, wie sich alle drei gegenseitig Raum lassen“.

„Wenig überzeugende Irrfahrten“

Nach all dem kommt einem der unqualifizierte Verriss in der Dezember-Januar-Ausgabe (2001/2002) von „L’Eveil Culturel - Das Schweizer Musik- und Lifestyle-Magazin“ fast wie von einem anderen Stern vor: „Das Trio dreht sich schon seit einer Weile im Kreis, ob das jenen, die nur die (ruhmreichen) Namen der Interpreten hören, nun gefällt oder nicht“. Aber es kommt noch besser: „Von den fast zwanzigjährigen überwältigenden Standardversionen und vom kreativen Vergnügen zu dritt blieben nur noch falsche Nicht-Arbeits-Reflexe übrig (wie bitte? ja), was immer schwerer zu verdauen war, insbesondere zusammen mit dem galoppierenden Narzissmus von Keith Jarrett“. Und erstaunt liest man weiter: „Das Trio (oder nur der Pianist?) hat sich also wieder für die freie Improvisation entschieden und diesmal implizit das (schon) völlige Fehlen von Wiederholungen zu dritt zugelassen!. Und das Ergebnis?“ - fragt sich der Schreiber zum Schluss: „Wenig überzeugende Irrfahrten auf der Suche nach Stimmungen, die – Ironie des Schicksals – regelmässig in Bluesstrukturen enden, der bequemen Krücke aller abgetriebenen Improvisationskünstler“. Und sein Fazit: „Bei soviel Talent zu dritt für ein so mageres Ergebnis hilft nur eins: die CD im Geschäft links liegen lassen und sofort weitergehen zur...“ (und jetzt geht der Schreiber zu seiner nächsten Rezension über, die (verblüffenderweise) das hohe Lied auf die neueste 2CD-Edition „Progression“ des Brad Mehldau-Trios singt. Erstaunlich!  ja

 




© JAZZ 'N' MORE 1/2002



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