Johannes Anders
Musik - Journalist

Das Wunder von Luzern

Grandioses Abschlusskonzert des "Lucerne Festival am Piano" 2010 -
und einige Bemerkungen über das rücksichtslose Husten

Von Johannes Anders

Der phänomenale Pierre-Laurent Aimard (*1957) gab im grossen Saal des KKL ein Solorezital. Auf dem Programm vor der Pause: Olivier Messiaen: Préludes pour Piano (1928/29), nach der Pause: Maurice Ravel: Miroirs (1904/05), Frédéric Chopin: Barcarolle Fis-Dur, op.60 (1845/46) und Scherzo Nr. 2 b-Moll op.31 (1837)

AimardIm zweiten Teil, mitten in seinem Ravel-Miroirs-Vortrag, unterbrach Aimard sein Spiel und wandte sich ans Publikum mit der Bitte, das störende Husten doch mit Rücksicht auf die anderen Konzertbesucher, die sich konzentrieren wollten, zu unterlassen. Es ist ein Phänomen, dass alle zwar von der grossartigen Akustik des grossen Saals im KKL reden, aber niemand realisiert, dass dadurch auch das rücksichtslose Heraushusten besonders gut zu hören ist - eine Gedankenlosigkeit par excellence. Aufmerksame Konzertbesucher können von dieser "Luzerner KKL-Krankheit" ein Lied singen, vor allem, wenn sie hinterher die Radioaufnahmen des einen oder anderen Konzertes hören. In besonders negativer Erinnerung bezüglich ungebremsten, also unzivilisierten Hustens sind mir Klaviersolorezitals von Maurizio Pollini, zum Beispiel sein Konzert bei der Klaviermatinee „Hommage à Pierre Boulez“ beim Lucerne Festival „Eros“ Sommer 2010. Pollini zeigte jedoch bezüglich dieser unglaublichen Störattacken keinerlei Regung.

   Das "Wunder von Luzern" war es, dass nach Aimards Unterbruch und Bitten an das Publikum keinerlei Husten mehr zu hören war, erst später, mit wenigen, ganz leisen Ausnahmen bei den Zugaben. Es ist also möglich, das Husten, wenn nicht zu vermeiden, dann doch so zu dämpfen – mit einem Taschentuch, Hand vor den Mund halten oder mit geschossenem Mund husten, was möglich ist (ich habs ausprobiert!) - dass es nicht oder kaum mehr hörbar ist, das übrigens ganz im Gegensatz zu einem DRS2-„Musikmagazin“-Redaktor, der in einem früheren Beitrag des Kapitels "Stimmts oder stimmts nicht" mittels eines Basler HNO-Arztes zu unterstreichen suchte, dass Husten aus medizinischen und psychologischen Gründen nicht vollständig zu vermeiden, also quasi ein Menschenrecht sei. Siehe dazu Peter Hagmann weiter unten.
  Und noch ein Wunder passierte beim Aimard-Rezital: Auch ohne die obligaten, hier manchmal schon fast zum modischen Ritual verkommenden stehenden Ovationen, mit denen Zugaben manchmal sozusagen erzwungen werden, gab der Pianist mit sichtbarer Spielfreude nicht weniger als 5 Zugaben und zwar nicht etwa wie üblich mit Hits aus der Klassikliteratur, sondern mit Werken der Neuen Musik: Mit György Kurtag, Pierre Boulez' "Notation Nr.4", Arnold Schönbergs "Sechs kleinen Klavierstücken" op. 19, George Benjamin's "Piano Figures"  und Elliott Carter's "Matribute" - grandios. Zuvor nahm er bereits mit seinen furiosen Chopin-Interpretationen, vor allem beim „Scherzo“, gefangen.

Kampfhusterei 
Übrigens: In einem Artikel im Tages-Anzeiger vom 2. April 2009 mit dem Titel "Auch Bonbons nützen nichts gegen die Kampfhusterei"sinnierte TA-Musikredakatorin Susanne Kübler einmal über das störende Husten im Konzert:                                                                          
"(..)Aber auch ganz ernsthaft haben sich Interpreten immer wieder gegen das Räuspern,  Röcheln, Prusten und Schnauben gewehrt. András Schiff hat einmal eine umfassende Liste der Dinge publiziert, die ihn stören (Husten, Handys, Kindergeräusche etc.). Keith Jarrett startete 2007 in Frankfurt nach einem Huster eine seiner gefürchteten Publikumsbeschimpfungen. Simon Rattle appellierte bei Mahlers 9. Sinfonie an die Einsicht der Zuhörer: «Diese Musik kommt aus der Stille und geht in die Stille. Bitte machen Sie das möglich.» Alfred Brendel versuchte es mit Ironie: «Ich kann Sie hören, aber Sie mich nicht!» Und Kurt Masur verliess einst mitten in Schostakowitschs 5. Sinfonie wutentbrannt das Pult; zwei Minuten später kam er unter tosendem Applaus zurück. Am wirkungsvollsten scheint eine Mischung aus Humor und Pädagogik zu sein, wie sie ebenfalls Masur einmal gefunden hat, als er einem nicht ganz taktsicheren Huster über die Schulter hin zurief: «Zu spät!» Das Publikum soll für den Rest des Konzerts geheilt gewesen sein. (...)"  - Und den Intendanten der Zürcher Tonhalle Elmar Weingarten stört sogar das krampfhafte Husten zwischen den Sätzen, wie Susanne Kübler weiter berichtete, "(...) als er bei einem Sinfoniekonzert nach der Pause aufs Podium stieg und um den Verzicht aufs Zwischenhusten bat...(..)".  Dass auch sensible Künstler die obligaten Hustenballungen zwischen den Sätzen (zu Recht) stören können, vermutete Alfred Zimmerlin in seinem Bericht von einem Konzert von András Schiff, das der Pianist im Rahmen seines Mozart-Zyklus in der Zürcher Tonhalle gab (NZZ 24.03.2009): “(...) Doch auch kleine - aussermusikalische (…) Trübungen gab es in diesem ersten Teil. Wie muss der sensible Schiff Angst haben vor dem kollektiven Publikumsräuspern zwischen den Sätzen. Dass er nach dem ersten Variationen-Satz von KV 331 das Menuetto attacca nach einer viel zu kurzen Zäsur folgen liess und danach das "Alla turca" ebenfalls so nah an das Menuetto herannahm, wie es nur irgend vertretbar ist, hat seinen Grund im Versuch, das Publikum zu disziplinieren. Auch das D-Dur-Rondo (KV 485), das h-moll-Adagio (KV 540) , dann die D-Dur-Variationen über ein Thema von Jean-Pierre Duport (KV 573) folgten sich nahtlos - mit der Folge, das dem einzigartigen, monolithischen Adagio ein Gran Inspiration fehlte. (...)“.

Husten als Menschenrecht?

Und NZZ-Musikchef Peter Hagmann schrieb am 1.4.2010 im Rahmen eines Berichts über ein Solokonzert von Krystian Zimerman im KKL:  " (...) Und obwohl sich das Publikum auffallend geräuschintensiv verhalten hatte (gehört es heute tatsächlich zu den Menschenrechten, zum Husten und Niesen den Mund offenzulassen?), liess sich Zimerman, was sonst nicht seine Art ist, zu einer Zugabe bitten (...)". Und Musikkritiker und -Essayist Max Nyffeler schrieb in der FAZ vom 24. April 2009 über ein Konzert mit Nikolas Harnoncourt im KKL : "(...) Manchmal muss ein Dirigent auch hinter seinem Rücken für Ordnung sorgen. Beschwörend breitet Nikolaus Harnoncourt die Arme aus und hält die Bewegung sekundenlang an. Drei Mal hatte ihm jemand aus dem Publikum im Menuett von Joseph Haydns Sinfonie in die Generalpause hineingehustet ...)". 
Die Beispiele von Musikern, die versuchen, beim Publikum einen Anstands-, Einsichts- und Lernprozess auszulösen, könnten fortgesetzt werden. In Luzern passiert das leider allzu selten, obwohl es hier oftmals besonders nötig scheint (Thomas Quasthoff kommt mir da als eine der Ausnahmen in den Sinn).  Und ein bekannter Zürcher Musiker sagte mir nach einem "Moderne"-Konzert beim Luzerner Sommer-Festival 2009: "(...) Ich habe  die Huster (und auch das Stühleknarren) zum Schluss der "Abgesänge" mit Jörg Widmann diskutiert - auch er konnte es fast nicht fassen: "Wie unmusikalisch muss man sein, um die Spannung der Musik dermassen nicht mitzubekommen?" - Und bei meiner kürzlichen Rückfahrt im Zug von Luzern nach Zürich unterhielten sich 5 junge Frauen im Nachbarabteil über das Aimard-Konzert. Ich versuchte, das Husten-Problem anzusprechen und eine von ihnen meinte, dass sie das eigentlich nicht verstünden, denn das Luzerner Publikum sei doch eigentlich ein Profipublikum... (aber, dass dem nicht so ist,  ist ein anderes Thema. ...). Ein "Profipublikum" fand sich allerdings am Vorabend beim ebenfalls phänomenalen "Moderne-Nacht"-Konzert von Nicolas Hodges ein, der prägnant,  furios und mitreissend Werke von Stockhausen (das 23-minutige "Klavierstück X"), eine Uraufführung des Franzosen Brice Pauset (*1965) und die "Serynade. Musik für Klavier" von Helmut Lachenmann zur Aufführung brachte - faszinerend, spannungsgeladen – auch dieser Abend ein Ereignis!.

 

(Ungekürzte Fassung des Berichts im JAZZ ’N’ MORE - Nr.1 / Januar/Februar 2011. Foto: PD)



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