Johannes Anders
Musik - Journalist

DIETER AMMANN

Von Johannes Anders

 Dieter Ammann (*1962 Aarau), Schulmusikstudium in Luzern, parallel Dieter Ammann 1dazu Jazzschule Bern, danach Theorie/Komposition in Basel (R. Moser, D. Müller-Siemens u.a.). Kurse bei W. Lutoslawski, W. Rihm, D. Schnebel. Als free-lance-musician viele Plattenproduktionen, Auftritte unter anderem an den internationalen Festivals von Willisau, Lugano, Köln, Brüssel. Spielte mit vielen CH-Musikern wie etwa Christy Doran, Fredy Studer, Peter Schärli, Martin Schütz, Andy Pupato, JoJo Mayer, Marco Käppeli oder als Bassist mit dem verstorbenen Gitarristen Thomy Kiefer. Seine musikalisch wichtigste Band Donkey Kong's Multi Scream setzte Marksteine im Bereich des FreeFunk; die Gruppe erlebt nächstens mit kürzlich eingespieltem Material eine Reunion. Als sideman begleitete er beispielsweise Eddie Harris (CD: Yeah you're right) oder Daryll Thompson. Mit 29 Hinwendung zur Komposition. Aufführungen im In- und Ausland. Nationale und internationale Auszeichnungen, z.B. Hauptpreis der International Competition for Composers (in honour of Luciano Berio) der IBLA-Foundation New York, Franz Liszt-Stipendium der Weimar Kulturstadt Europas Stiftung 1999, 1. Preis Young Composers in Europe Leipzig, u.A.. Professur für Theorie/Komposition an der Musikhochschule Luzern.


THE GEORGE RUSSEL SEXTET:

STRATUSPHUNK (George Russel Sextet im Zürcher Volkshaus, rec. 1965, G. Russel, cond, p, Bertil Löwgren, tp, Bernt Rosengren, ts, Eje Thelin, tb, Roman Dylag, b, Albert Heath, dr. Aufn. Schweizer Radio).

DA: Diese Aufnahme zelebriert in groovenden Walking-Vierteln; ganz besonders spannend das sparsame, fast witzige Anfangsthema der Trompete; die leichte Abstraktion hat mich an Thelonious Monk erinnert und der Pianist spielt am Anfang auch kurz eine Monk-Anleihe. Die Solisten sind sehr virtuos, weshalb auch sehr viel Double Time gespielt wird, was mir immer gefällt und auch, wenn es "powert". Irgendwann sind sie etwas schneller geworden, aber es ist guter, groovender Bigband Jazz, J.A: …es ist nur ein Sextett … DA: … das aber eine rechte Fülle entwickelt.


DIMITRI SHOSTAKOVICH (1906-1975):

1. SATZ, ALLEGRO POCO MODERATO (Symphony Nr.4, op. 43, 1936, rec. 2004, Sinfonieorch. des Bayer. Rundfunks, Leitg. Mariss Jansons. EMI-CD).

dieter Ammann 2DA:  Das ist vermutlich ein Russe. Typisch für diesen Neoklassizismus ist die Marschartigkeit des Rhythmus, bei dem keine so starken Brechungen des Pulses gibt, die mich beim Neoklassizismus immer besonders interessieren, zum Beispiel bei Bartok oder Strawinsky. Diese Starrheit hat aber den Boden bereitet für dieses irrwitzige Streicherfugato; das war schon am Rande des Wahnsinns, und dann noch mit dem Bogen-Tremolando … Das Orchester wird hier als kompakter Klangkörper in allen Farben ausgereizt. Es könnte Shostakovich sein.


CECIL TAYLOR SEPTET: MIXED ("Into The Hot – The Gil Evans Orchestra", rec. 1961, C. Taylor, p, J. Lyons, as, A. Shepp, ts, T. Curson, tp, R. Rudd, tb, Henry Grimes, b, Sunny Murray, dr. Impulse-LP):

DA: Spannend "gopfertelli"!  Wenn ein Stück mit einer kleinen None beginnt, lässt das auf ein erweitertes Verständnis des Tonalitätsprinzips schliessen und damit auf eine bestimmte Ambitioniertheit der Musik. Und am Anfang tönt es auch so – wie eine halbimprovisierte Exposition von allerdings höchst heterogem Material; und diese eigenartige Spannung zwischen Ambition und der Rauhheit der Musik – ich denke da zum Beispiel an den Einstieg des Saxophonisten mit fast etwas Dilettantischem in der Tongebung – irritiert beim Hören, auch die im Hintergrund laufenden ostinaten Patterns des Klaviers …, also nicht gerade DRS2-Apèro-like, aber spannende Musik, die ich jedoch nicht zu jeder Zeit hören würde.


WOLFGANG RIHM (*1952):

BAR 1, BAR 142 ("Rihm - Jagden und Formen", rec. 2001,  Ensemble Modern, Leitg. Dominique My. DG-CD).

DA: (Nach den ersten Tönen:) Das ist Rihms "Jagden und Formen", eines der "geilsten" Stücke, die in den letzten Jahren geschrieben wurden, nicht zuletzt auch wegen der imposanten Länge. Es ist ein Werk, das mir in seiner subjektiven Eruptivität sehr gefällt. Von der ästhetischen Grundhaltung her strebe ich Ähnliches an. Hörst du den Elektrobass im Hintergrund … ? Und dann die gackernde Bläsertextur, die über Minuten durchgezogen wird nach dem langen Duo zu Beginn. Bei ihm würde mich interessieren, wie stark er analytisch arbeitet, um solche Grossformen zu bewältigen. Er verarbeitet hier ja auch andere Stücke, welche teilweise über lange Strecken eingepflanzt werden. Und er komponiert im Gegensatz zu mir unheimlich rasant; er ist wie ich glaube ein musikalischer Urquell.


MARTIN STREULE ORCHESTRA:

WATER ("Streamin' ", rec. 2003, 17 Musician CH-Band, Martin Streule, comp, cond. UNIT-CD.

Dieter Ammann 3DA: (Zwischenbemerkung:) Total schön und trotzdem avanciert - und hier gerade ein schönes Altsolo, das ich gern weiter hören würde … Und der 6/8 gefällt mir sowieso immer – und jetzt das eloquente Posaunensolo … Fazit: Das anfängliche Gitarrenintro legt einen Fundus für darüber gelegte, extrem spannende Motivkürzel, die sich eigentlich auf zwei grosse Sekunden und einen Einzelton beschränken. Das eröffnet mit den darübergelegten freien Cymbals einen weiten Raum, mit dem übrigens auch die bereits zu Beginn sehr offene Harmonik korrespondiert, was eigenartige Wechselwirkungen ergibt. Im weiteren fällt wie erwähnt die avancierte Schreibweise auf, zum Beispiel in diesem durchgehenden Sechszehntelteil, der dann kompositorisch wieder zur Ruhe zurückgeführt wird, also nicht einfach eine Reihung von Teilen. Das Altsaxsolo wirkt nach dem spannenden Head dann eigentümlich konventionell. Hat mir aber alles sehr gut gefallen.(Nach Info:) Was, das war der Streuli – jetzt habe ich den endlich mal gehört !.


JOHANN SEBASTIAN BACH:

DAS WOHLTEMPERIERTE KLAVIER, BUCH 1

PRÄLUDIUM UND FUGE, G-DUR, Nr. 15:

1. FRIEDRICH GULDA: "The First Recordings", rec. 1947. Decca-CD

2. KEITH JARRETT: "Das Wohltemperierte Klavier, Buch 1", rec. 1987. ECM-LP

3. TILL FELLNER: "Das Wohltemperierte Klavier, Buch 1", rec. 2002. ECM-CD.

JA: Die Reihenfolge war natürlich chronologisch … DA: … das hat man gehört. Darf ich die Beispiele noch einmal hören … Also, die erste Aufnahme ist vom Klang und Alter her eindeutig  eine historische Aufnahme; ich finde sie aber trotzdem zeitgemäss, da sie ohne romantisierende Interpretationsansätze auskommt; es herrscht eine Schnörkellosigkeit, eine gewisse Objektivität vor, die mir sehr gut gefällt. Die perlende Motorik verrät grosse Technik, die aber nie Selbstzweck wird. Die polyphone Stimmführung ist ganz klar ausgeleuchtet, einige Male gibt es ganz kurz Pedalgebrauch. Diese Aufnahme gefällt mir von allen dreien am besten. - Bei der zweiten hat sich bald einmal ein wenig gepflegte Langeweile eingestellt, wobei vielleicht auch im Gegensatz zur ersten das geglättete Klangbild eine Rolle spielt. In der linken Hand habe ich manchmal etwas unmotivierte Sforzato-Akzente gehört. Hingegen hat mich der Schluss der Fuge in der spürbaren Zurücknahme dann plötzlich ungemein berührt. Die Schlussgestaltung ist damit völlig anders, als bei der ersten und dritten Aufnahme. – Die dritte Aufnahme weist mit den auf- und abbauenden dynamischen Entwicklungen viel mehr Binnengestaltung auf, als die erste, etwas was dem Barock mit seiner Terrassendynamik eigentlich diametral entgegengesetzt ist. Dann gibt es hier im Kleinen auch viel agogische Ereignisse und Veränderungen; man darf also bei Bach heute doch wieder viel mehr machen, als nur objektiv die Noten zu spielen; das hat mir ganz gut gefallen. Der Schluss wirkt im Gegensatz zur zweiten mehr nach aussen hin zelebriert. Meine Favoritenreihenfolge ist also ganz klar Eins, Drei und Zwei. JA: (Bemerkung nach Nennung der Interpreten:) Gulda war hier übrigens erst 17 Jahre alt und doch ist sein phänomenales Potential schon voll ausgeprägt. (Diese CD ist übrigens soeben erschienen!.)


JACQUES DEMIERRE ENSEMBLE:

TRAVELLING MILES (Schaffhauser Jazzfestival 2005, 6 versch. Auszüge aus dem 53-minutigen Impro-Opus, internat. 11-köpfiges Impro-Ensemble, u.A. mit Martin Schütz, cello, electr, Hans Koch, bcl, electr, Christian Weber, b. Privatkopie der Konzertaufnahme).

DA: Gleich zu Beginn wird eine enorme ästhetische Bandbreite aufgespannt, auch durch die Verwendung der Alltagsgeräusche und menschlichen Stimmen, wie man es etwa von der Musique concrète kennt. Ich hab mich dann gefragt, ob das politische Musik ist bzw.  eine aussermusikalische Aussage damit verbunden ist. Teilweise wirkt das etwas collagenhaft und unverbindlich; man kann das aber auch anders artikulieren, denn der Einsatz der menschliche Rufe zeigt, dass da doch eine thematische Verbundenheit zwischen den Teilen besteht und die Grossform organisiert zu sein scheint, wobei im Detail die freie Improvisation vorherrscht. Im vierten Auszug fand ich die Musikalisierung deshalb so geglückt, weil da die rhythmische Struktur zwischen den instrumentalen Einwürfen und der deklamierenden Stimmen wie komponiert oder zumindestens fein abgestimmt wirkte. Den Pianisten fand ich noch "geil", im weiteren meinte ich, Hausi Koch und Martin Schütz herausgehört zu haben und auch der Kontrabassist ist mir sehr positiv aufgefallen. Das Ganze ist eine Art Soundscape, das vor einem ausgebreitet wird und in dem man sich als Hörer bewegen und umherschweifen kann, ein Konzept, das nicht unserer gewohnten Art, Musik zu hören entspricht und deshalb schon Angriffsflächen bietet.


KEITH JARRETT (*1945):

PART 5 ("Radiance", rec. 2002, Auszug. K. Jarrett, p. ECM-2CD).

DA: Was auffällt ist, dass dieses Klavierstück auf engstem Raum viele unterschiedliche spannende Fakturen entwickelt, es tönt streckenweise wie komponierte Neue Musik. Das kommt zum Vorschein, wenn zum Beispiel die panchromatische Harmonik des Anfangs verlassen wird zugunsten von mächtigen, oktavgestützen Akkorden, die einen völlig anderen inneren Bau haben. Der Pianist ist sicher ein Meister seines Fachs; er scheint sich auch in den verschiedensten stilistischen Bereichen auszukennen und kann die auch spontan abrufen, ohne deswegen irgendwo stilistisch extrem heterogen zu wirken. Und das ist auch das Spannende und macht beim Hörerlebnis die komponiert wirkende Komponente aus – ein enorm toller Musiker. Ist das eventuell von der neuen Jarrett-CD? JA: … ja, genau. 


STEAMBOAT SWITZERLAND:

PART VI, PART III ("Wertmüller", rec. 2003, Dominik Blum, ham.org, Marino Pliakas, e-b, Lucas Niggli, dr. GROB-CD).

DA: Verzerrte Hammond, beinharte Grooves, fliegende Wechsel zwischen Rock, Swing,

metal loops, double bass drum …, alles auf energetisch höchstem Level gespielt. Die harten Schnitte der Grooves und Stimmungen wurden als Konzept zum Beispiel schon bei John Zorn erprobt, aber das ist das einzige, was an ihn erinnert. Ich persönlich habe noch nie Steamboat Switzerland gehört, aber schon darüber gelesen und wenn ich jetzt die Texte mit der Musik vergleiche, könnten sie es sein … JA: … ja genau und zwar von der neuesten CD mit Kompositionen von Michael Wertmüller … DA: … aah, der Michi – super!  


NILS WOGRAM / SIMON NABATOV:

FALL ("The Move", rec. 2002, Auszug, N. Wogram, tb, S. Nabatov, p. between-the-lines-CD).

DA: Das Anfangsostinato wirkt zuerst etwas banal; aber wenn dann der Posaunist loslegt, geht eine völlig andere Welt auf – extrem spannend, was der da spielt und man weiss nicht genau, was fixiert ist und wielange und was dann wirklich voll improvisiert ist. Selbst die halb gespielten und halb gesungenen Klänge wirken bei ihm nicht  klischiert, da er sie als "puls keeper" benützt; es ist nicht Selbstzweck sondern hat unheimlich viel musikalischen Sinn.


ANTHONY BRAXTON:

TAKE FIVE ("20 Standards [Quartet] 2003", rec. 2003, A. Braxton, sax, Kevin O'Neil, g, Kevin Norton, perc, Andy Eulau, b. LEO-4CD-Box).

DA: Die Begleitgruppe legt diesen modalen "Take Five"-Teppich für die im wahrsten Sinne des Wortes abenteuerlichen Eskapaden des Saxophonisten aus und dieser zeigt, dass man quasi frei gespielte Energiebahnen auch über einen tonal konventionellen Boden ausbreiten kann und zwar so, dass es miteinander funktioniert. Der Solist hat mir sehr gut gefallen, übrigens die verrückteste Version von "Take Five", die ich je gehört habe. 


JOE ZAWINUL:

CAFÉ ANDALUSIA ("Joe Zawinual & The Zawinul Syndicate / Vienna Nights / Live at Joe Zawinul's Birdland", rec. 2004, Auszug. BHM-CD).

DA: (nach den ersten Takten:) Yeah, ist das Weather Report? JA: … die Richtung stimmt. DA: aber Zawinul … JA: … ja, von seiner neuesten Doppel-CD aus seinem Wiener Club. DA: Das gefällt mir, yeah, "geil" ! Soundmässig bleibt er bei Weather Report stehen. Diese retrospektive Ästhetik, auch des thematischen Materials, ist aber in unserer kurzlebigen, immer dem neuesten Kick hinterherhechelnden Zeit, finde ich, nicht a priori unsympathisch. Irritiert haben mich aber etwas diese pseudo-afrikanischen Anleihen – aber sonst gute Musik.


ANNA GOURARI / SOFIA GUBAIDULINA (*1931):

CHACONNE, 1963 ("desir – Skrjabin, Gubaidulina", rec. 2004, Anna GOURARI, Piano. Decca-CD).

DA: Dieses Klavierstück atmet eine gewisse fast russische Strenge, es hat auch eine eigenartige, sperrige Harmonik, die oft auf Sekundenklängen aufbaut. Der Formverlauf wirkt ziemlich rhapsodisch; mit dem plötzlich einsetzenden zweistimmigen Inventionssatz, der ziemlich unerwartet kam, hatte ich dann etwas Mühe. Der langsame Teil hat mich an eine angestrengte Kompositionsetüde erinnert. Generell fehlt mir eine gewisse Stringenz, aber eigentlich müsste man die verschiedenen Teile einzeln beurteilen, denn es hat auch ganz tolle Stellen darin.

JA: Nicht nur Gubaidulina, auch die Pianistin Anna Gourari ist übrigens Russin.


Dieter, herzlichen Dank für Deinen Besuch




 © JAZZ 'N' MORE © Nr. 4/2005
Fotos: © Peewee Windmüller



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