Johannes Anders
Musik - Journalist

KASPAR EWALD

 Text und Fotos: Johannes Anders

Kaspar EwaldNachdem Kaspar Ewald (*1969 Liestal) vorwiegend Stücke für die eigene Jazzrock-Bigband »KGB« (Kaspars Grosse Band) geschrieben hatte, studierte er von 1990 bis 1996 an der Musik-Akademie Basel bei Detlev Müller-Siemens (György Ligeti, Olivier Messiaen) und Roland Moser (Sándor Veress, Wolfgang Fortner) Komposition und Musiktheorie. Die Ausbildung wurde ergänzt durch Unterricht an der Jazzschule Basel bei Hans Feigenwinter und ein Filmmusikseminar bei Ennio Morricone. 1997 erhielt Ewald den ersten Werkjahrbeitrag der Stiftung Christoph Delz, Basel, welcher ihm die Komposition des Musiktheaterstücks Brambilla ermöglichte. Nach ergänzenden Studien im Elektronischen Studio der Hochschule der Künste in Berlin und einem weiteren Auslandaufenthalt in Amsterdam war Kaspar Ewald 1999 v.a. als Produktionsleiter tätig. Seit Herbst 2000 ist er Dozent an der Musikhochschule Zürich. Neben Auftragskompositionen für diverse Ensembles schreibt Ewald v.a. Stücke für seine aus klassischen Musikern und Jazzern zusammengesetzte Grossformation »Exorbitantes Kabinett«.

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GIL EVANS (1912-1988):

1.) MILES DAVIS AND HIS ORCHESTRA: BOBLICITY ("Birth Of The Cool": Arr. Gil Evans, rec. 1949. Gerry Mulligan, bs. Capitol-LP).

2.) MILES DAVIS WITH ORCHESTRA UNDER THE DIRECTION OF GIL EVANS: SPRINGSVILLE ("Miles Ahead", rec. 1957. Fontana-LP).

3.) GIL EVANS ORCHESTRA: THEME ("Great Jazz Standards Featuring John Coles", rec. 1958. World Pacific-LP).

4.) MILES DAVIS SKETCHES OF SPAIN: SOLEA ("arranged and coducted by Gil Evans", rec.1959/60. Columbia-CD).

5.) MILES DAVIS PORGY AND BESS: GONE ("orchestra under the direction of GIL EVANS, rec. 1958. Columbia-CD).

KE: Eine unheimliche schöne Sammlung; zuerst habe ich überlegt, warum du mir hier so oft einen Trompeter präsentierst, bis ich dann vor allem bei 4 merkte, dass das ja der Miles und Gil Evans sind, wobei ich bei den ersten drei Beispielen nicht ganz sicher war. 1 fand ich extrem delikat, also nicht krampfhaft orginell, der Arrangeur macht was nötig ist, hat ein riesiges Herz und einen riesigen Kopf und verbindet das schön. Das würde ich gern mal schwarz auf weiss sehen und analysieren. Schön, wie Trompete und Baritonsax bereits als Randstimmen präsent sind, bevor sie als Solisten agieren. Beim Übergang von einem zum anderen Solo kommt dann doch noch Kontrapunktik ist Spiel. 2 hat eine ähnliche Handschrift, vermutlich ein Teil einer durchkomponierten Suite mit ebenfalls delikater Instrumentierung, die Bassklarinette in hohem Register, die Hörner … - würde den Aufbau als eine Art Splittertechnik bezeichnen, Solo und thematisches Material laufen in verschiedenen Schichten nebeneinander … In 3 wird sozusagen mit einem riffartigen Nichts als Kern gearbeitet; super dabei, wie das Piano am Anfang in unbrillanter Tenorlage spielt - und der Trompeter baut dieses Riff ebenfalls unspektakulär aus und erstmals höre ich da eine Gitarre. Auch bei 4 auffallend die ungewöhnliche Instrumentation, mit Harfe, Englischhorn, Oboe und schön der Mix aus den binären Rhythmen des Tambours und dem swingenden Drummer. 5 war aus "Porgy and Bess", habe die Kassette auf meiner Maturreise anno 1988 x-mal gehört und mir dabei vorgenommen: Kaspar, wenn Du je mit Bassklarinette arbeitest, schreib einen Einsatz ein Sechzehntel früher, denn die Bassklarinette spricht langsamer an (habe selbst einmal Bassklarinette gespielt). Generell ist zu sagen: Ein grossartiger Künstler und extremer Dramaturg, arbeitet ähnlich wie Beethoven fast nie mit Themen sondern mit Fragmenten, mit Fetzen, und das macht die Ohren extrem auf; man will immer noch mehr hören, weiss nicht, wo es hingeht. Ein früheres Konzert mit Gil Evans im Basler Theaterfoyer mit einem Jimmi-Hendrix-Programm war übrigens in Sachen Grossformation eine der Initialzündungen meines Lebens, war, als flösse Gold durch meine Adern.


ANTON WEBERN (1883-1945):

1.) J.S. BACH: FUGA [RICERCATA] À 6 VOCI - ORCHESTRATED BY A.W. ("Bach / Webern - Ricercar", rec. 2001, Auszug. Münchner Kammerorchester, Leitg. Christoph Poppen. ECM-CD).

2.) WEBERN: FIVE MOVEMENTS OP. 5 - VERSION FOR STRING ORCHESTRA - 5. SATZ (CD "Bach / Webern - Ricercar", wie vorher). 

Kaspar EwaldKE: Das ist Bachs Fuga aus dem "Musikalischen Opfer" in der Instrumentierung von Webern. Habe das weniger sinnlich in Erinnerung, aber toll gespielt, wer ist denn das? Grossartig die subtilen Farbunterschiede, das Offenlegen von Strukturen, was manchmal wirkt, als wäre das nicht Bachs Harmonik, aber Webern hat das ja mit riesigem Respekt und grosser Verehrung für Bach bearbeitet. 2 war auch Webern; zuerst dachte ich an ein Orchesterstück aus op.6, aber es dürfte die Orchestrierung eines der Streichquartettstücke op. 5 sein. Unheimlich die grossorchestrale Wirkung, obwohl es ja nur ein Streichorchester ist. Und Mahler ist omnipräsent -  das riesigen Pathos, die Bezüge zur deutschen Romantik. Mir gefällt beim frühen Webern die Naturbezogenheit, fühle mich in einer romantischen  Berg- und Alpenwelt, Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebenmeer" …


JOHN COLTRANE (1926-1967):

ASCENSION PART 1 ("Acension", rec. 1965, Auszug. John Coltrane Orchestra. Impulse-LP).

KE: Zuerst hört man diese Fünftonzellen und denkt an irgendeinen organisierten Freejazz, nach Webern schwach und impotent wirkend, ohne Raffinement, Jekami-Effekt … Webern hat ja extrem konzentriert komponiert und diese Musik hier geht von einer unendlichen langen Zeit aus, die zur Verfügung steht. Dann habe ich aber gemerkt, hoppla, hoppla, das ist ja John Coltrane mit McCoy Tyner und Elvin Jones, vermutlich mit der Grossformation "Ascension", und diesen Coltrane liebe ich, auch weil er einen technischen Hintergrund hat und diesen in den Freejazz hineingetragen hat; habe riesigen Respekt vor ihm und die beiden übrigens im Unterricht einmal einander gegenübergestellt, weil man bei Webern wie Coltrane eine gewisse Ernsthaftigkeit, eine Demut vor dem Höheren spürt, ein Andächtigsein, ein Bewusstsein auch von Leid, Klage, Trauer.


DIETER AMMANN (*1962):

1.) GEHÖRTE FORM FÜR STREICHTRIO - 1998 ("Mondrian Ensemble", rec. 1999. Auszug. Musiques Suisses-CD).

2.) THE FREEDOM OF SPEECH - 1996 ("The Freedom Of Speech", rec. 2002, Auszug. Ensemble für Neue Musik Zürich, Leitg. Jürg Henneberger. hat[now]ART-CD).

3.) CORE - 2002 ("Lucerne Festival 2002 - Lucerne Moderne", Auszug. Basel Sinfonietta, Leitg. Peter Rundel. Aufn. SR DRS 2).

4.) APRÈS LE SILENCE - 2004/5 ("Lucerne Festival 2005", Auszug. Tecchler Trio. Aufn. SR DRS 2).

5.) PRESTO OSTINATO - 2006 ("Paul Sacher-100. Geburtstag-Konzert" im Gare Du Nord, rec 2006, Auszug. Ensemble Phoenix, Leitg. Jürg Henneberger. Aufn. SR DRS 2).

Kaspar EwaldKE: Alle Stücke verbinden Lachenmann'sches Handwerk mit einer Jazzästhetik und alles wirkt wie gut geschliffen. 1 ist dramaturgisch sehr schön, mit vielen tollen Effekten, ist aber nicht effekthascherisch, Einsatz teils herkömmlicher Mittel und schön eingesetztes Musikmaterial unserer Zeit. Erstaunt haben mich die plötzlich auftauchenden konsonanten Akkorde - aber es ist durchgehend spannend und man bleibt permanent dran. In 2 höre ich Minimal-Music- und Jazzanklänge, eine versteckte Bluestonleiter, erinnert mich etwas an Yannis Kyriakides (J.A.: 1969 in Zypern geborener Komponist). Bei 3 dachte ich zuerst kurz an Zimmermann, merkte dann aber schnell, dass es von heute sein muss, wie wohl überhaupt die Stücke im Zeitraum Mitte der 90er Jahre bis heute entstanden sind. Manches kam mir hier bekannt vor, Anfang des 20. Jahrhunderts, Strauss-Strawinsky-Orchestrales, glänzend, schwirrend, das ganze Programm mit Glockenspiel, Trompetenspritzern, Piccolo, Tamtam, Tom Tom, Varèse'sche Sirene, konsonanter Choral - aber mir gefällt das sehr. In 4 Polyrhythmisches, Pathos, sehr musikantisch, coltraneske HTGT-Licks (Halbton-Ganzton), auch hier Jazzhintergrund, trotz grosser Bartok-Nähe ohne die Poprockmusik der 70er und 80er nicht denkbar … 5 ist sehr atmosphärisch, Orchestrales mit tonalen Einsprengseln, auch hier Yannis-Akkorde, jazziger Hintergrund, Blueshaltung - vermute einen Komponisten ähnlichen Jahrgangs wie ich, vielleicht etwas älter.  Wer ist es denn? Was, der Dietsch - neiiiiiiiiiiiiin - ich Idiot, hätte ich wissen müssen, kenne ihn gut, wir haben ja zusammen studiert und er war einer der wenigen, mit dem ich meine Groove-Freude teilen konnte, war auch eine Art Mentor für mich.

 


MILES DAVIS QUINTET (1926-1991):

SO WHAT ("Miles In Tokio", rec. 1964. M. Davis, S. Rivers, ts, H. Hancock, p, R. Carter, b, T. Williams, dr. CBS-SONY-LP).

KE: Miles in Tokyo, eine irrsinnige Version dieses von der "Kind of Blue"-Platte bekannten Titels. In meiner Gymnasium-Zeit war ich auch öfter bei Urs Blindenbacher daheim. Ich verdanke ihm viele Konzerte, u.a. das erwähnte Gil Evans-Konzert und eben auch diese Live-Platte, wo er beginnt, seine Sachen aufzulösen, wobei Coltranes Rolle nicht zu unterschätzen ist, auch wenn er hier nicht dabei ist.


EDGAR VARÈSE (1883-1965):

AMÉRIQUES - 1918-21,1927 ("Boulez Conducts Varèse", rec. 1995, Auszug. Chicago Sympgony Orchestra, P. Boulez. DG-CD).

KE: Grosses Orchester, auffallend diese Unisonobögen, dieses unheimliche ostinate Beharren - und die Sirene zeigt Richtung Varèse - ist es "Ameriques"? Phänomenal, wie modern das heute noch ist. Wer spielt? Aha, daher die Präzision.


PETER BRÖTZMANN / MARINO PLIAKAS / MICHAEL WERTMÜLLER:

NO 5 ("Full Blast", rec. 2006, Auszug. P. Brötzmann, sax, M. Pliakas, e-b, M. Wertmüller, dr. Jazzwerkstatt-CD).

Kaspar EwaldKE: Ein technisch toller Drummer, ein Doppelpedalkönig und ein sehr sprachnah artikuliertes Saxophon, das mir sehr gefällt; klingt wie ein Teil einer grösseren Geschichte, ist aber eine Musik, die ich lieber im Konzert höre.


CHARLES IVES (1874-1954):

CENTRAL PARK IN THE DARK - 1907 ("Gustav Mahler / Charles Ives", rec. 1995, Auszug. SWR Sinfonieorechester, Leitg. Michael Gielen. SWR-Hänssler-CD).

KE: "Cental Park In The Dark" ! Das packt mich und es geht mich etwas an, diese extreme Sinnlichkeit bei Ives ... Faszinierend diese vielen Schichten, die scheinbar nichts miteinander zutun haben und doch einen Kern haben und kompakt zusammengehören - sehr strukturell und eiskalt gebaut, aber mit einem riesigen Herz und das ist das was ich mag und was ein Zeichen grosser Kunst ist, wenn Kopf und Herz sich nicht gegenseitig verdrängen.


GUNTER SCHULLER (*1925):

VARIANTS ON A THEME OF THELONIOUS MONK: CRISS CROSS ("Jazz Abstractions", rec. 1960. O. Coleman, as, E. Dolphy, bcl, as, J. Hall, g, B. Evans, p, S.L.Faro, b, E. Costa, vib, G. Duvivier, b, St. Evans, dr, The Contemporaray String Quartet. Atlantic-LP).

KE: Hier wird etwas zum Thema, was mich sehr interessiert nämlich die Aufgabe des Solos im Verhältnis zum Thema und ich finde, die Themata sind hier wunderschön komponiert und durchgebaut. Dagegen empfinde ich die Soli als überflüssig, weil sie keine Bezüge zum Thema haben, obwohl es sich um hervorragende Spieler handelt, - einer ist sicher Eric Dolphy. Aber verblüffend modern die ganze Sache. 


KARLHEINZ STOCKHAUSEN ("1928):

1.) PUNKTE / 1963 ("Donaueschinger Musiktage 1963", Auszug. Sinfonieorchester des SWF, Leitg. Pierre Boulez. col legno-4CD-Box).

2.) GRUPPEN FÜR 3 ORCHESTER - 1955/57 ("Karlheinz Stockhausen", rec. 1965, Auszug. Kölner Rundfunk-Sinfonieorch., Leitg. K. Stockhausen, B. Maderna, M. Gielen. DG-LP).

3.) TRANS - 1971 ("Stockhausen / Trans", Donaueschinger Musiktage 1971, Auszug. Sinfonie-Orchester des SWF, Leitg. Ernest Bour, Klangregie K. Stockhausen. DG-LP).

Kaspar EwaldKE: 1 und 2 ist vermutlich Orchestermusik der 50er, 60er Jahre. Zuerst dachte ich an Maderna, vieles sprach dann aber mit diesen einzelnen Gruppen für Stockhausen - vielleicht war das eine auch "Gruppen". JA: Wie bist Du auf Stockhausen gekommen? KE: Eigentlich intuitiv, kanns nicht genau sagen. Aber typisch Stockhausen ist die Schlagzeugbehandlung. 1 hat mir besser gefallen, fand es frischer, sinnlicher. In 2 ist Weberns Geist noch ganz deutlich. Für meine persönliche Biographie ist diese Musik allerdings nicht mehr modern und atmet bereits den Geist der guten alten Zeit. Interessant, dass Stockhausens Orchesterbehandlung nicht wie bei Mahler ist, wo die Individuen zählen, sondern eine Bruckner'sche ist, wo das Ganze zählt; ich mag nicht, wenn alle permanent gleich wichtig sind. 3 ist sicher ein jüngeres Beispiel und ich habe ganz kurz gestaunt bei dieser homophonen, Ligeti-artigen Melodie. Wenn das vom gleichen Komponisten ist, spricht das gegen das immer wieder nachgeplapperte Klischee, der junge Stockhausen sei toll, der alte kanns nicht mehr. Dieses Stück würde ich gern mal live hören.


PIERRE-LAURENT AIMARD (Piano,*1957):  

1.) OLIVIER MESSIAEN - XII LA PAROLE  …- 1944 ("Messiaen -Vingt Regards",. rec. 1999. Teldec-2CD).

2.) PIERRE BOULEZ - PREMIÈRE SONATE - 1946 ("Lucerne Festival 2005", Pierre Boulez, sämtl. Klavierwerke, Auszug. Aufn. SR DRS 2, 2CD).

3.) GYÖRGY LIGETI - ETUDE NO. 17 - 1997 ("Ligeti / Reich - African Rhythms", rec. 2002. Teldec-CD).

KE: (Zu 1): Schon fertig, schade, dass es so kurz ist, das könnte für mich noch lange weitergehen. Guter Rhythmiker - zusammen mit den Farben der Harmonik wurde schnell klar, dass es sich um Messiaen handeln muss. 2 klang zuerst ähnlich, dann trat aber der krasse Unterschied deutlich zutage, denn es wirkte seriell und klang nach Boulez'scher Ästhetik. Während Messiaen mit Modi arbeitet, gibt es hier Klischees, die gestisch extrem geschwätzig und wichtigtuerisch daherkommen, ein elender Fleissigkeitsbluff, eine blosse Hülse - unerträglich. Boulez ist sicher ein toller Dirigent, aber das Komponieren sollte er bleiben lassen; sicher, er hat sich viel überlegt, was aber noch lange kein Qualitätsbeweis ist. Neuere Werke von ihm sollen ja ganz spannend sein, kenne sie jedoch nicht, sollte sie vielleicht mal anhören. 3 ist dagegen genial, toll, muss Ligeti sein, möchte nur noch zuhören und keine Notizen mehr machen, kanns nicht erklären, jedoch: raffinierte Harmonik, jeder einzelne Akkord kommt von Herzen, der Kopf ist nur Hilfsmittel - super, ein ganz toller Komponist. 


OSCAR PETERSON TRIO:

WOODY'N YOU ("The Jazz Soul Of Oscar Peterson", rec. 1959. O. Peterson, p, R. Brown, b, E. Thigpen, dr. Verve-CD).

KE: (Lacht) Unglaubliche Spielfreude, super, ein Techniker der alten Schule, ist vermutlich Peterson. Hatte als Teenager eine Platte von ihm, die ich wohl tausendmal vor und zurück hörte. Toll, wie hier Technik nicht als Selbstzweck zelebriert wird, sondern als Ausdruck von Spielreude.


Kaspar EwaldDONKEY KONG'S MULTI SCREAM:

ORDER NOW ("DKMS", rec. 2005. Dieter Ammann, comb.-tp + synth, R. Philipp, sax, C. Muzik, g, T. Jordi, b, A. Brugger, dr, A. Pupato, perc. Privat-CD).

KE: (Reagiert begeistert!) Da will ich die volle Länge hören. Ist das DKMS ? Das ist meine Welt, die Geburtsstunde meines zweiten Lebens - so eine Superband! - die Kombination von Funkgefühl mit verschiedenen Effekten wie Synthi, Delay usw. Mehr kann ich nicht sagen, denn immer, wenn ich etwas ganz herausragend finde, kann ich nicht sagen warum. Hier ist jedoch nichts zuviel und nichts zuwenig, ist genau das da, was es braucht; das lüpft mich, beflügelt mich, und dann diese Quartenharmonik und witzig, dass die am Schluss nicht aufs Anfangthema zurückkommen, sondern das verändern. Schade Dieter, warum machst Du nicht mehr davon? Ist übrigens ähnlich seiner klassischen Kompositionen auch aerodynamisch, aber mit mehr Geröll und rauherer Oberfläche, weniger geschliffene Axt als Motorsäge - aber das sind emotionelle Reaktionen …


DETLEV MÜLLER-SIEMENS (*1957):

PHOENIX I - 1992-95 ("Detlev Müller-Siemens", rec.1999, Auszug. Ensemble Phoenix, Leitg. Jürg Henneberger. Wergo-CD).

KE: An ihren Schlüssen sollt ihr sie erkennen, ist Detlev Müller-Siemens, toll, gefällt mir sehr, habe lange nichts mehr von ihm gehört. Hier ist nichts Überflüssiges, es gibt keinen Bluff, ist irgendwie pur, die Harmonik ist weder seriell noch modal, ist intervallklimamässig komponiert, mit aufgerauhter Oberfläche, hat etwas Grobes, Widerborstiges, ist ein guter Rhythmiker, stammt wahrscheinlich aus den 90er Jahren, der Zeit, in der ich bei ihm studiert habe -. war ein wichtiger Lehrer für mich. 


KARL AMADEUS HARTMANN (1905-1963):

6. SINFONIE, 3. Satz - 1953 ("Karl Amadeus Hartmann", rec. 1956, Auszug. RIAS-Sinfonie-Orchester Berlin, Leitg. Ferenc Fricsay. DG-CD).

KE: Ein grandioses Stück, pseudopolyphonisch, d.h. kein pedantisch fugaler Aufbau - grandioser Melodiker, extrem toll, sowohl auf der Ebene der Instrumentation wie der Form, Harmonik und Meldodik, und sehr gut gespielt. Muss ein Strawinsky-Verehrer sein, vermute, es ist Karl Amadeus Hartmann, ein völlig unterschätzter Komponist, der es seit langem verdient, in den Vordergrund gerückt zu werden!


MILES DAVIS QUINTET:

STELLA BY STARLIGHT ("The Complete Concert 1964", M. Davis, tp, G. Coleman, ts, H. Hancock, p, R. Carter, b, T. Williams, dr. Columbia-2CD).

KE: Das ist die Miles-Hancock-Ballade mit dem weltbesten Publikumsschrei am richtigen Ort; hab das Stück lange nicht gehört - wunderbar, wie Miles das Stück auseinander nimmt, zerfetzt, wodurch Luft reinkommt und das Feuer richtig zu brennen beginnt. 


GEORG FRIEDRICH HAAS (*1953):

NATURES MORTES - 2003 ("Donaueschinger Musiktage 2003", Auszug. SWR Sinfonieorchester, Leitg. Sylvain Cambreling. col legno-2CD).

KE: Interessante Harmonik am Anfang, hat Post-Messiaen'schen Charakter; den ersten Teil fand ich etwas lang, aber der Moment, wo der Rhythmus, das Repetitive reinkommt, gefällt mir sehr, hat etwas Magisches, auch diese Mischungen. Habe mich immer gesträubt, wenn die gesamte Lehrerschaft gegen die Minimalmusic war, mich dafür eingesetzt, finde das hier allerdings auch ziemlich einfach gemacht, massentauglich, könnte als hippe Filmmusik dienen, ist aber schon faszinierend und ein Orchester wagnerianischen Ausmasses. Allerdings kann man hier ein seriöses Urteil erst fällen, wenn man das ganze Stück gehört hat. 


GUSTAV MAHLER (1860-1911):

SYMPHONY NO. 1 D major, 4. Satz, 1984-88, ("Gustav Mahler / Charles Ives", rec. 2002, Auszug. SWR Sinfonieorchster, Leitg. Michael Gielen. SWR-Hänssler-CD).

KE: (Lacht nach den ersten Tönen) Bin ein totaler Mahler-Verehrer, bei ihm ist alles gesetzt, jede Note ist empfunden und kommt dramaturgisch richtig. Und er macht einen Aufbau und nimmt sich wieder zurück auf Null, aber es dräut weiter im Hintergrund; und wie er das so sauber austariert, wie ein Koch, der sein Fleisch keine Sekunde zu lang oder zu kurz  auf dem Feuer hat. Er ist  d e r  dramaturgische Zauberkünstler, dem ich mich völlig ausgeliefert fühle.

JA: Danke, Kaspar, dass Du nach Nürensdorf gekommen bist und Dich dem umfangreichen Hörprogramm ausgesetzt hast. KE: Morgen habe ich Geburtstag und dieser Nachmittag war das tollste Geburtstaggeschenk - danke Johannes.

Als nächsten ANDERS HÖREN-Gast erwartet Johannes Anders die Genfer Schlagzeugerin Béatrice Graf.

 


© JAZZ 'N' MORE Nr. 6/2006
Fotos: © Johannes Anders



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