Johannes Anders
Musik - Journalist

FRANCO AMBROSETTI

Text von Johannes Anders


Franco Ambrosetti 11941 in Lugano geboren hat er hier auch das musikalisches Handwerk erlernt, inbegriffen acht Jahre klassischen Klavierunterricht. 1961, im Alter von 20 Jahren, erste öffentliche Auftritte, vor allem in Clubs im nahen Milano.1965 Aufnahmen mit den Flavio Ambrosetti All Stars mit Gruntz und Humair und mit einem Quartett mit Franco D‘Andrea in Milano. 1966 erster Preis beim von Friedrich Gulda in Wien organisierten, Interationalen Jazz-Wettbewerb mit 116 Nachwuchsmusikanten aus 24 Ländern. 1967 amerikanisches Debüt zusammen mit Vater Flavio Ambrosetti beim Monterey Jazz Festival. Seit dem weltweit Gast bei vielen wichtigen Festivals, Mitglied in Gruppen von Stars wie Kenny Clarke, Cannonball Adderley Sextett, Dexter Gordon Quartett, Phil Woods ”European Rhythm Machine”, sowie Beginn einer weit über Europa hinaus beachteten, beispiellosen Karriere als einer der besten modernen BeBop-Trompeter und Flügelhornspieler. 1980 und 1982 Special Awards beim Montreux Jazz Festival für seine ENJA-Alben ”Close Encounter” und ”Heart Bop”. 1985 von der Jury der italienischen Radio- und Fernsehgesellschaft RAI zum besten europäischen Jazzmusiker gewählt. Immer wieder enge Zusammenarbeit mit George Gruntz. Eigene Plattenproduktionen mit Musikern wie Benny Wallace, Phil Woods, Mike Brecker, Lew Soloff, Tommy Flanagan, Steve Coleman, John Scofield, Greg Osby, Geri Allen und Kenny Barron, mit letzterem z.B. für die CD “Live at the Blue Note” (NYC, 1992, ENJA 7065). Von Franco gibt es eine ganze Reihe Eigenkompositionen, aber auch Filmmusiken, wie etwa für die “Die Reise” von Markus Imhof.


”Volare” als ”European Standard”

Seit 30 Jahren hat Franco eine eigene Jazzsendung beim Tessiner Radio RSI. Seine letzte CD für das Münchner Label ENJA, dem er nun schon seit 25 Jahren verbunden ist, heisst ”Light Breeze” (ENJA 9331); er spielt hier u.a. zusammen mit John Abercrombie, Antonio Faraò und Miroslav Vitous. (Die Firma Ambrosetti Technologies übrigens, die Franco lange neben seinen musikalischen Aktivitäten leitete, hat er inzwischen verkauft. Er ist aber weiterhin Präsident der Handelskammer des Kantons Tessin sowie Verwaltungsratsmitglied bei Swisscom und weiteren Unternehmungen.)
Soeben stellte ENJA bei einer Vernissage in Milano neue ENJA-Editionen mit italienischen Musikern vor, z.B. mit dem Italian Instabile Orchestra (”Litania Sibilante”, ENJA 9405) und dem Antonio Faraò Quartet (”Thorn”, ENJA 9399) . Präsentiert wurde auch die neueste CD von Franco Ambrosetti: Sie heisst ”Grazie, Italia” (ENJA 9379), und ist italienischen Popsongs der 50er und 60er Jahre gewidmet, eigentlichen ”European Standards”, wie Franco sie bezeichnet, mit Hits wie ”Volare”, ”Le Tue Mani”, “Tintorella Di Luna” usw. Zum ersten Mal sind hier die drei Ambrosetti-Genartionen auf einer CD vereint: Der 80jährige Vater Flavio, ts, Fanco Ambrosetti, tp,flh, und als Special Guest Sohn Gianluca Ambrosetti,ss. Weiter mit dabei Enrico Rava, Dado Moroni, Furio De Castri, Roberto Gatto, Alfredo Golino u.a.
(Der Aufbau des nachfolgenden Musik-Interviews wurde chronologisch gegliedert und reicht bis ins Jahr 1971. Eine Fortsetzung bis zur Gegenwart gibt es im nächsten ”JAZZ ‚N‘ MORE”-Magazin, Nr. 6, Dezember/Januar.)


CHET BAKER QUARTET: ”Bea’s Flat”
(”featuring Russ Freeman”, rec.1953, with Freeman,p, Carson Smith,b, Larry Bunker,dr. Pacific Jazz-25cm-LP).

FA: Das klingt wie Russ Freeman und es muss der Chet sein. Der spielt hier phantastisch, hat später nie mehr so gut gespielt. Mir war garnicht mehr bewusst, dass er mal so schnell und präzis spielen konnte. Er hat mich mal versucht, reinzulegen. 1962/63, wo ich viel in Mailand, Zürich und Paris war (und nie an der Uni), also zu Zeiten des Africana, ging ich mal morgens um 2 ins Pariser ”Chat qui pêche”, wo Chet spielte. Er fragte mich, ob ich einsteigen wollte. Klar, wollte ich. Er gab ein sehr schnelles Tempo vor und liess mich gleich nach dem Thema mit dem Bassisten allein spielen.... Ich hatte schon damals – wie heute – keinerlei technische Probleme mit der Trompete und legte so los, dass er dann Probleme bekam. Gut, er hatte schon den ganzen Abend gespielt und war sicher müde... Ich bin kein Fan von Chet, aber dieses Stück hier beweist, dass er ein grosser Musiker war.


CLIFFORF BROWN ART FARMER:”Cuse These Bloos”
(”with the Swedish All Stars”, rec.1953, Quincy Jones, arranger and musical director. Metronome-45EP).

Franco Ambrosetti 2FA: Yeah, - Gillespie ist es nicht, aber seine Phrasen.... Einer spielt, beeinflusst von Gillespie, und ist mehr in den Changes drin, der andere ist viel reicher in der harmonischen Auslegung, addiert noch Sachen, die nicht unbedingt geschrieben sind. Also der, der beim solistischen Wechselspiel als erster spielte, ist harmonisch moderner als der andere. JA: “Ich sage Dir jetzt mal die beiden Namen und Du sagst mir, wer der erste Solist war, wobei ich meine, der erste war Clifford... FA: Nicht unbedingt: Art Farmer ist eigentlich harmonisch immer ein Stück weiter gewesen; der machte schon Sachen, die z.B. Kenny Dorham erst später, in den sechziger Jahren, spielte. JA: Bist Du ganz sicher, dass der erste Art Farmer war? FA: Ich müsste das noch mal hören. (Nach erneutem Hören:) Jetzt ist’s klar, der erste ist Clifford, aber es war schwierig, beide mit ”mute”, und wenn zwei so zusammen improvisieren, beeinflussen sie sich immer stark. Wer war denn der Altist ? JA: Arne Domnerus.


CLIFFORF BROWN ENSEMBLE: ”Blueberry Hill”
(”featuring Zoot Sims”, rec.1954, Arrangement: Jack Montrose, with Russ Freeman, Shelly Manne, Stu Williamson, Bob Gordon, Carson Smith, Joe Mandragon. Vogue-45EP).

FA: Das ist Clifford Brown, arrangiert von Jack Montrose, - guter Arrangeur. Was unheimlich ist bei Clifford, ist die Schönheit seiner Linien, wie ein Maler, der eine grosse Harmonie hineinbringt. Jede Linie hat einen Anfang und ein Ende, ist durchgedacht bis zum Schluss, - sehr reif und ästhetisch perfekt, wenn man bedenkt, wie jung er damals noch war... Ich finde es wichtig in der Musik, dass man die ästhetische Seite nicht vergisst.


MILES DAVIS: ”Diner au Motel”
(”Ascenseur pour l’echafaud”, Film music composed and played by Miles Davis, rec.1957, with M. Davis,tp, Barney Wilen,ts, René Utreger,p, Pierre Michelot,b, Kenny Clarke, dr. Fontana-25cm-LP).

FA: Miles !, eindeutig. Wunderbar, wie er hier phrasiert. Er hat schon immer gut gespielt, - fast immer; manchmal hat er nicht geübt...Aber wenn er gut drauf war, spielte er phantastisch. Mit Kenny Clarke habe ich in meiner Jugend 3, 4 Jahre zusammengespielt. Es gibt Filmaufnahmen davon, aus denen in einer Sendereihe über den Jazz der sechziger Jahre gegenwärtig immer wieder Teile nachts von RAI ausgestrahlt werden, - mit meinem Vater, mit mir, mit George Gruntz, K.T.Geyer und mit Kenny Clarke. Von den drei Erfindern des modernen Schlagzeugspiels, neben Kenny Max Roach und Art Blakey, ist Kenny für mich der Grösste.


ORNETTE COLEMAN: ”Chippie”
(”Something Else – The Music Of Ornette Coleman”, rec.1958, O.Coleman.as, Don Cherry,tp, Walter Norris,p, Don Payne,b, Billy Higgins,dr. Comtemporary-LP).

FA: Dolphy.?..., nein, Ornette mit Don Cherry. Das Piano hat mich zuerst irritiert. Don Cherry ist ein phantastischer Trompeter, sehr kreativ und neu. Er wäre wahrscheinlich der Beste geworden, wenn er nur geübt hätte. Sehr interessant: zuerst klingt das irgendwie free; wenn man diese Musik dann aber genau analysiert, ist das wahnsinnig Bebop bezogen, eine Art moderner Bebop. Bei Coltrane beispielsweise hören diese Bebop-Einflüsse erst 1963/64 auf; in seinen Quartett-Aufnahmen und Konzerten dieser Zeit ist keine einzige Parker- oder Bebop-Phrase mehr vorhanden. Man kann diese Entwicklung, weg vom Bebop, hin zum intervallischen Spiel, sehr gut etwa bei seinen verschiedenen Aufnahmen der Ballade “I want to talk about you” verfolgen.


ERIC DOLPHY with Roy Eldrige: ”Body And Soul”
(”Candid Dolphy”, rec.1960, with E.Dolphy,as, R.Eldridge,tp, J.Knepper,tb, T.Flanagan,p, Ch.Mingus,b, Jo Jones,dr. Candid CCD 79033).

FA: Wenn das nicht Harry ”Sweets” Edison ist, weiss ich nicht, wer das sein könnte. (Nach Einstieg Dolphy:) Tönt wie Dolphy. Mit dem hab ich mal gespielt!: Wir gastierten damals, 1964, in einem Club in Bologna, als Mingus mit seinen Musikern hereinkam. Wir begannen dann, das Podium frei zu machen und unsere Instrumente einzupacken; da kam Mingus, hielt mich als einzigen zurück und sagte, you play!. Alle stiegen dann ein, Mingus, Jacky Byard, Danny Richmond und natürlich Dolphy, nur Clifford Jordan blieb sitzen. Wir spielten eine Stunde lang Blues in allen Tonarten und Tempi, bis 4 Uhr morgens. Dann kam Mingus zu mir und fragte mich, ob ich nicht für den erkrankten Johnny Coles einzuspringen und den Rest der Tournee mitzuspielen wolle. Aber mein Vater verhinderte das: Ich müsse mich jetzt um meine Prüfungen kümmern (die ich dann ohnehin nicht gemacht habe...).Mingus beendete die Tournee dann ohne Trompeter.


DUSKO GOYKOVICH: ”Last Minute Blues”, ”I Love You”
(“After Hours”, rec.1971, with D.Goykovich,tp, Tete Montoliu,p, Rob Langereis,b, Joe Nay,dr. enja-LP).

Franco Ambrosetti3FA: Das ist schwierig. Vermutlich ein Europäer, - ein Mann, denn ich aber gut kenne. Kann ich noch ein anderes Stück hören ? (Nach einer Weile:). Das ist Dusko ! Den grössten Teil von dem, was ich auf der Trompete kann, verdanke ich ihm. Als er damals aus den USA zurück kam, wo er u.a. bei Woody Herman spielte, war ich noch ein ganz junger Trompeter. Immer, wenn wir uns trafen, hat er sich um mich gekümmert, hat mir gesagt, was ich für ein Mundstück nehmen sollte usw., hat mir viele persönliche Tips gegeben, private Tricks, die in keinem Lehrbuch stehen, - wie beim Risotto kochen...Nach dem ich beim Gulda-Musikwettbwerb in Wien 1966 den ersten Preis machte, wurde ich zusammen mit drei weiteren Trompetern, einer davon war Dusko, für Fernsehaufnahmen wieder nach Wien eingeladen. Philly Joe Jones war auch dabei. Wir bekamen etwa 20 Blatt Noten vorgelegt und da ich bekanntlich kein guter Leser bin, sagte ich, dass ich länger brauchen würde, um das Zeug zu studieren und zu lernen. Dusko kam dann aber zu mir aufs Zimmer und hat die ganze Nacht mit mir geübt und mir vorgespielt. Das vergesse ich ihm nie, - ein echter Freund. Unter den europäischen Trompetern war er der grosse Lehrer für mich, ohne dass ich je reguläre Stunden bei ihm hatte.


Ende Teil 1



 © JAZZ 'N' MORE Nr.5/2000
Fotos: © Pewee Windmüller

Teil 2

 

Nach dem der Tessiner Star-Trompeter im letzten Magazin Musikbeispiele aus der Zeit zwischen 1953 und 1971 kommentierte, mit Ausschnitten von Chet Baker, Clifford Brown, Miles Davis, Ornette Coleman/Don Cherry, Eric Dolphy/Roy Eldridge und Dusko Goykovich, umfasst der ebenfalls chronologisch konzipierte, zweite Teil den Zeitraum von 1972 bis zur Gegenwart. Die Bedeutung der Musikerpersönlichkeit Franco Ambrosetti wurde inzwischen durch drei weitere Ereignisse unterstrichen: Anfang November brachte “3sat“ an einem Samstag, also zur besten Sendezeit, gleich zwei ausführliche Sendungen zum Thema Ambrosetti: um 22 Uhr zuerst das einstündige Künstlerportrait “Ambrosetti’s Jazz Family“, später dann eine 1993 entstandene, 90  Minuten lange Aufzeichnung eines „Jazz in“ von SF DRS mit dem Quintett Franco Ambrosetti, Ronnie Cuber, Michael Formanek, Antonio Farao und Adam Nussbaum. Und soeben erschien unter dem Titel „The Winners – live at the Dolder Grand Hotel Zurich“ auf TCB Records eine am 20.April dieses Jahres entstandene CD mit Franco Ambrosetti, Thierry Lang, Heiri Känzig und Peter Schmidlin, den Gewinnern des “Reader’s Poll 1999“, den das vorliegende „JAZZ 'N‘ MORE“-Magazin jedes Jahr für seine Leser veranstaltet.


CHARLES TOLLIVER‘S MUSIC INC.: “Grand Max“, „Truth“
(“live at the loosdrechdt jazz festival“, rec.1972, with John Hicks, p, Reggie Workman, b, Alvin Queen, dr. Intercord Black Lion-LP).

FA: ...alles Coltrane-Phrasierungen, aber ein innovativer, sehr guter Trompeter, sehr energisch und direkt, agiert zwischen Freddie Hubbard und Woody Shaw. Darf ich noch ein anderes Stück hören ? (JA: klar)...spielt eine ganz eigene Mischung all der Trompeter, Franco Ambrosetti4die meine Lieblingstrompeter sind.


CHRIS MC GREGOR’S BROTHERHOOD OF BREATH: “Tungi’s Song“
(Live at Willisau“, rec.1973, feat. Mongezi Feza, tp. OGUN Records-LP).

FA: Afrika!, von der Free-Szene, einer dieser Trompeter, die ich nie verstanden habe, weil sie meiner Meinung nach keinen Geschmack haben, spielen irgendwas, einen Haufen Noten, die auch zu einer anderen Begleitung passen würden, klingt wie eine Art schlechter Don Cherry...


ENRICO RAVA QUARTET: “Outsider“, “Rose Selavy“
(“AH“, rec.1979, with Franco D’Andrea, p, Giovanni Tommaso, b, Bruce Ditmas, dr. ECM-LP).

FA: Miles Davis hat (sinngemäss) einmal gesagt, warum so viele Noten spielen, wenn man nur die schönen zu spielen braucht. Wenn Trompeter free spielen, klingen sie alle gleich und sind kaum zu unterscheiden. Ich kann den Trompeter hier nicht erkennen, kannst du noch ein anderes Stück spielen ? (JA: Ich suche eines) ...es dürfte ein Europäer sein...(J.A.: Ich sage dir jetzt einmal, wer es ist, obwohl du ihn mit Sicherheit bestens kennst...)  FA: Rava ist ein phantastischer Trompeter und schreibt auch gute Stücke. Als er damals aus Amerika zurück kam, wo es garnicht so einfach war, sich als Europäer zu behaupten, war er stark von den damaligen avantgardistischen Strömungen beeinflusst, von Carla Bley, dem Jazz Composers‘ Orchestra, von Roswell Rudd...  Seine grosse Stärke liegt jedoch im Melodischen, wo er ein grosser Meister ist. Und hier schätze ich besonders seinen lyrischen Approach. 


ART BLAKEY AND THE JAZZ MESSENGERS: “How Deep Is The Ocean“
(“Straight Ahead“, rec.1981, with A.Blakey, dr, Wynton Marsalis, tp, Bobby Watson, as, a.o. Concord-CD).

Franco Ambrosetti5FA: (während der balladesken Intro:) ...hat einen lyrischen Ansatz wie Rava, wie Miles, Chet... (nach Wechsel in Up-Tempo-Teil:) Marsalis !, aber eine ältere Aufnahme, grossartiger Trompeter, hat damals besser gespielt. Über ihn kann man viel oder wenig sagen...; ich bin wahrscheinlich der einzige Trompeter, der ihn verteidigt, denn meistens wird über ihn nur schlecht gesprochen, was ich eigentlich garnicht verstehe. Er ist inzwischen vielleicht etwas zu konservativ geworden, ist jedoch und war schon immer ein phantastischer Trompeter mit einem ganz eigenen, unverkennbaren Stil. Bei mir braucht es nicht lange, bis ich zu einem Urteil komme, aber es braucht sehr lange, bis ich es revidiere. – Ich habe ihn einmal, vor vielleicht 15, 20 Jahren, in einem Konzert gehört, was mir garnicht gefallen hat, ja ich wäre fast rausgelaufen. Ungefähr in der Mitte spielte er jedoch eine Ballade, es war „Embraceable you“, und die hat er so schön gespielt, dass ich mir sagte: Ich komme zwar nicht mehr an deine Konzerte; wenn du aber eine Ballade so schön spielst wie diese, bist du ein grosser Trompeter und Musiker, da kannst du sonst machen, was du willst. Und eines darf man nicht vergessen: Er hat sich in einem Moment für den Jazz entschieden, als ein totales Wirrwarr herrschte und die Leute vor lauter „free“ nicht mehr wussten, was gut oder was schlecht war. Vielleicht hat er sich im Jazz inzwischen etwas zu weit nach rückwärts gewandt, was eine negative Komponente wäre, und vielleicht ist er auch arrogant. Viel wichtiger ist jedoch der positive Aspekt, nämlich, dass er dem Jazz wieder eine Zielrichtung gegeben hatte, die dieser damals total verloren hatte. Nicht unwesentlich ist auch, dass er den jungen Schwarzen der sozialen Mittelschicht, die nicht wussten, wie man sich benehmen, sich geben, sich kleiden sollte, ein Beispiel gab, und damit ein soziales Element in den Jazz brachte. 


FREDDIE HUBBARD & WOODY SHAW: “Blues For Duane“
(“dedicated to the memory of Clifford Brown“, rec. 1983, with F.Hubbard + W.Shaw,tp, Benny Golson, ts, Kenny Barron, p, Cecil McBee, b, Ben Riley, dr. Timeless-LP).

FA: (Nach den ersten Takten von Hubbards Chorus:) Freddie Hubbard, der grösste von allen meiner Generation! (Kurz nach Beginn von Shaws Solo:) Woody Shaw! Mit dem hab ich zuviel geübt, als dass ich ihn nicht sofort erkennen würde. Wir sind ja alle Kinder von Fats Navarro und Clifford Brown; danach hat sich eigentlich nur noch wenig verändert, marginale Stilunterschiede im Sinne von Art Farmer, Donald Byrd, Blue Mitchell, Kenny Dorham usw. Es gab ja zwei mit ähnlicher Konzeption: Hubbard und Booker Little. Little ist früh verstorben, Hubbard konnte weitergehen, und dadurch, dass er viel Coltrane in sein Spiel reinholte, konnte er natürlich seine Trompetensprache etwas erneuern. Ich sehe das so gut, weil ich selbst ein Coltrane-Verehrer bin und Coltrane für mich die grösse Inspiration bedeutete; ich meine den Coltrane vor seiner Free-Phase. Ich hatte damals auch gewisse Coltrane-Klischess in mein Spiel integriert und dabei allerdings herausgefunden: shit, das hat ja schon der Freddie gemacht. Woody Shaw ist jedoch eine andere Geschichte. Er war der erste, der begann, intervallisch zu spielen. Er hat diese chromatischen Bebop-Phrasierungen, die wir alle von Clifford Brown haben, beiseite gelassen und das von Coltrane genommen, was intervallisch war. Das war sein grosser Verdienst. Coltrane habe ich mal, ich glaube das war 1963, zusammen mit McCoy, Elvin und Jimmy Garrison im Zürcher Volkshaus gehört und dazu gibts eine kleine Anekdote zu erzählen. Ich begrüsste nach dem Konzert Elvin Jones, den ich durch meinen Vater kannte, und fragte,  ob er nicht Lust hätte, noch ein bisschen zu jammen. Elvin hat mich dann Coltrane vorgestellt und weil alle noch was trinken wollten, kam das ganze Quartett mit ins Africana. Ich schlug dann vor, spielen zu gehen, Coltrane wollte jedoch zuerst etwas trinken und sagte zu mir, geh du zuerst. Ich machte das also, es spielte gerade das Dollar Brand Trio mit Johnny Gertze und Makaya Ntshoko, und als es so ungefähr Viertel vor 12 war, und Coltrane begann, sein Sax auszupacken, kam der Hugentobler (das Ar......), und sagte zu Coltrane, was machen sie denn da, jetzt ist gleich Polizeistunde und da wird nicht mehr gejammt. Coltrane packte sein Sax wieder ein und so wurde ein vielleicht geschichtliches Zürcher Ereignis verhindert. 


MARKUS STOCKHAUSEN: “Across Bridges“
(“Cosi Lontano – Quasi Dentro“, rec.1988, with M.Stockhausen, tp, Gary Peacock, b, Fabrizio Ottaviucci, p, Zoro Babel, dr. ECM-LP).

FA: Kenny Wheeler, nein ?; hat ihn aber viel gehört, schöner Sound, präzise artikuliert, ein Könner. Würde ihn gern mal mit einem Standard oder Blues hören.


TONY WILLIAMS QUINTET: “Birdlike“
(The Story Of Neptune“, rec.1991, with T.Williams, dr, Wallace Roney, tp, Bill Pierce, sax, Mulgrew Miller, p, Ira Coleman, b. Blue Note CD).

FA: Kenne ich, ist der Trompeter der damals in Montreux beim Miles-Memorial dabei war, wie hiess er noch.....? (JA: Wallace Roney, 1992 in Montreux, im „Tribute To Miles“-Quintett mit Hancock, Shorter, Ron Carter und Tony Williams). FA:...einer der vielen guten Trompeter, die alle gleich gut spielen und alle von Marsalis beeinflusst sind.


JAZZ CLASS ORCHESTRA: “Untitled“
(„Sound And Colours“, rec.1991, Solo Franco Ambrosetti, tp. Ducale CD, Milano. CH-Vertr. Musicora).

FA: Kommt mir bekannt vor (lacht....), ist das Jazz Class Orchestra und der Trompeter bin ich (singt den Chorus mit). JA: Es freut mich, dass dir der Trompeter gefällt... FA: (verschmitzt) ...ist der beste, hätte nur ab und zu noch ein bisschen präziser spielen können...



NICHOLAS PAYTON/CHRISTIAN MC BRIDE/MARK WHITFIELD: “The Eye of the Hurricane“
(„Fingerpaintings“, rec.1997, Payton, tp, McBride, b, Whitfield, g. Verve CD).

FA: Oh... (singt das Thema mit), schöner Ansatz, sehr guter Trompeter, neue Generation, perfekt intoniert, gute Artikulation, schöner Sound..., wahrscheinlich werde ich nicht drauf kommen; (JA: es ist Nicholas Payton) FA: ... derjenige unter den vielen guten, der mir am besten gefällt. 


DAVE DOUGLAS QUARTET: “Euro Disney“
(“Leap Of Faith“, rec.1998, with D.Douglas, tp, Chris Potter, ts, James Genus, b, Ben Perowsky, dr. Arabesque Jazz CD/Plainisphare).

FA: Sind auch Junge, weiss aber nicht, wer die sind, aber gut; generell ist das Niveau der Musiker höher geworden, sind aber alle Kinder von Marsalis. Wer ist es ? (Nach Berkanntgabe:) ...von ihm wird viel geredet, hat riesen Erfolg, ein interessanter Musiker, einer unter den vielen Jungen, der wenigstens versucht, vorwärts zu gehen, innovativ zu sein.


TOMASZ STANKO SEXTET: “Love Theme...“
(“From The Green Hill“, rec.1998, with T.Stanko, tp, John Surman, bs,bcl, Dino Saluzzi, bandon., Michelle Makarski, viol., Anders Jormin, b, Jon Christensen, dr. ECM CD).

FA: Schön ! Ich weiss nicht, wer das ist, aber sehr interessantes Spiel, voll, schöner Sound. Gute Musik. Der spielt anders, als die vielen Marsalis-Jünger. Sind sicher europäische Musiker, man hört das, - kultiviert, viel Farben...


NILS PETTER MOLVÆR: “Kakonita“, “Ligotage“
(“Solid Ether“, NPM, tp, div. electr., rec.1999. ECM CD).

FA: Geht in Richtung New Age, World Music, sind die neuen Sounds, - keine Ahnung, wer das sein könnte. Sehr schön, gut gemacht, - Stimmung, Farben, viel Minimalistisches.... Was für mich jedoch zu sehr in den Hintergrund rückt, ist das schwarze, das afrikanische Element. Die Musik löst sich vom Jazz, geht in eine andere Richtung; ist eine andere Geschichte, ein introvertierter Trip, wie wenn du Pot rauchst. Vielleicht bin ich altmodisch; ich meine aber, die Musik muss immer noch Swing haben und menschliche Energie  ausstrahlen, was hier jedoch fehlt. Wie gut der Trompeter ist, kann man hier nicht beurteilen.


JENS THOMAS PLAYS ENNIO MORRICONE: “the man with the harmonica“, “once upon a time in america“
(“you can’t keep a good cowboy down“, rec.1999, with J.Thomas, p, Paolo Fresu, tp, flh, Antonello Salis, acc. ACT CD).

FA: Ein bisschen free zum Einspielen...., das hat Freddie Hubbard schon in den siebziger Jahren gemacht. Aber jetzt höre ich Morricone, schöne Sounds, sehr gut aufgenommen, guter Pianist, „once upon a time in america“....Ist das ein italienischer Trompeter ? Kommt auf jeden Fall von der Rava-Schule. Mit so viel Dämpfer..., könnte der Fresu sein, ist ein guter Trompeter, hat viel Geschmack, ist etwas cooler als Rava.


AUDUN KLEIVE GENERATOR X: “Obelisk“
(Ausschnitt 2:20 bis 6:05, rec. 1999, Arve Henriksen,tp, Audun Kleive, dr, keys, voc., a.o.  Jazzland CD).

FA: Alles auf den späten Miles bezogen, Modales mit anderen Rhythmen, und alles Maschinen, synthetisch. Da hat mir der vorher (Molvaer) besser gefallen, war innovativer.




  © JAZZ 'N' MORE Nr.6/2000
Fotos: © Pewee Windmüller



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