Johannes Anders
Musik - Journalist

L I S A  N O L T E

Text und Fotos: Johannes Anders

NolteGeboren 1983, wuchs Lisa Nolte in Berlin auf. An der Technischen Universität Berlin und der Université Stendhal Grenoble studierte sie Musikwissenschaft, Philosophie und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft. Parallel zu ihrer Ausbildung betätigte sie sich bereits in verschiedenen kunstbezogenen Feldern als Assistenzkraft, unter anderem bei der Galerie Mönch Berlin, der Edition Ex Tempore + Nova Vita und im Lektorat für freie Journalisten. - Seit 2011 lebt und arbeitet sie in Zürich als Journalistin, Programmtexterin und Projektbetreuerin, vorrangig im Bereich der zeitgenössischen Musik. Ihre Artikel erscheinen in der Dissonanz – Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation und im Zürcher Tages-Anzeiger. Projektarbeiten haben sie unter anderem mit Formationen wie dem Mondrian Ensemble und dem ensemble TZARA zusammengeführt, zu dessen Vorstand sie von 2011 bis 2013 zählte. Seit April 2013 hat sie die Projektleitung beim Collegium Novum Zürich inne.

Koch – Schütz  – Studer:
Improvisation: Lucerne Festival Sommer 2002 „Verführung“. Hans Koch (cl, sax, electr), Martin Schütz (vc, electr-vc,  electr), Fredy Studer (dr, perc).
Fliessender Konzertübergang zu:
Iannis Xenakis:
Keqrops, 1986, für Klavier und 92 Musiker. Basel Sinfonietta, Peter Rundel (cond), Nicolas Hodges (p). SR DRS2 2002.
L.N.: Im ersten Teil habe ich vor allem extrem spannend und aufschlussreich empfunden diese Kontrainstrumente, wie sie zu Hybriden zwischen den ganzen Gruppen werden und zu soviel fähig sind und man soviel mit ihnen machen kann, diese ganz tiefen Geschichten, diese Düsternis, das ganze Perkussive, das Überblasen… Du sagtest ja, dass zwei Gruppen spielen und es einen fliessenden Übergang von der einen zu anderen gibt. Diesen Übergang konnte ich relativ schwer einordnen, fand es dann aber total passend, diese hereinkommende Irisierende, das in einen Dance Macabre überging und ein schummrig schauriges Bild erzeugte, das aber irgendwie sehr lustvoll ist.  

NolteAndreas Schaerer’s „Hildegard lernt fliegen“:
Rezitae Furije Furije: „the fundamental rhythm of unpolished brains“, rec. 2013. Andreas Schaerer (voc & div. Instr.), Matthias Wenger (sax, fl, soprano recorder), Andreas Tschopp (tb, voc & div. Instr.), Benedikt Reising (sax, cl, sopranino recorder), Marco Müller (b), Christoph Steiner (dr, & div. perc), Urs Vögeli (bj), Michael Zisman (bandoneon). enja records.
L.N.: Das ist eine der Sachen, die mich extrem glücklich machen, weil es ein Hybrid ist aus diversen Richtungen; dieser Stimmkünstler hätte sich auch gut in zeitgenössischer Musik bewegen können, man hört trotzdem irgendwo auch Ska raus, aber die Harmonik ist so raffiniert, dass es doch eher Richtung Jazz geht … Es macht mich heilfroh, das solche Sachen heute viel häufiger anzutreffen sind im Gegensatz zum Studium, wo ich noch eine stringente Teilung zwischen E und U und eine Problematisierung von dieser Teilung einfiltriert bekommen habe und immer mehr feststelle, dass das gar nicht mehr real ist. 

Raphaël Cendo:
Registre de lumieres für 16 Instrumentalisten, Live-Elektronik und 30 Sänger. Donaueschinger Musiktage 2013. Vokalensemble musikFabrik, IRCAM Musikinformatik, Marcus Creed (cond). SWR2 2014.
L.N.: Das ist eine Art von Musik, die meinen Geduld sehr auf die Probe stellt, die etwas Sphärisches hat und hier und da Einzelereignisse, die schwer zusammenzubringen sind, was dann für mich sehr berechnet klingt, wenn es nicht extrem gut gemacht ist – ist Musik, die vielleicht spannend gedacht ist aber das Ergebnis zieht mich nicht rein.  

Anto Pett – Christoph Baumann:
A Night at the zoo. „Duo“, rec. 2012. Anto Pett, Christoph Baumann (p). Leo Records.
J.A.: Das ist voll improvisiert und ist mein letzter Anders Hören-Gast Christoph Baumann zusammen mit dem estnischen Pianisten und Komponisten Anto Pett an zwei Klavieren. L.N.: Conlon Nancarrow wäre darauf stolz gewesen, hat mir sehr gefallen, wie ein Perpetuum Mobile, bei dem aber sehr viel passiert in allen Dimensionen.

Patrick Pulsinger – Christian Fennesz:
Part four. „In Four Parts“, rec. 2012. Patrick Pulsinger (modular synt), Christian Fennesz (g, electr). Col legno.
L.N.: Die brauchen die Zeit, dieses Ausdehnen von etwas, das am Anfang wie gar nichts daherkommt, sich mit diesem fast billigen Synthiklang am Rand der Peinlichkeit bewegt. Dann aber passieren peu à peu Dinge, zum Beispiel, wie sich der zuerst im Hintergrund kaum merklich pulsierende Rhythmus, sich verschiebt … plötzlich kommt ein Störgeräusch rein und man ist erst nicht sicher, was soll das da, dann setzt es wieder aus – das finde ich sehr spannend, es lädt dazu ein, das ganz ausgedehnt zu hören und sich überraschen zu lassen.

NolteHelmut Lachenmann:
Teile 20b, 21, 22 aus „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. „Musik mit Bildern“, rec. 2001. Staatsorchester Stuttgart, Staatsopernchor Stuttgart, Lothar Zagrosek (cond). Kairos.
L.N.: „Das Mädchen…“, ist ein total anrührendes Stück, das einerseits etwas extrem Konstruiertes hat, mit den zwei Sopranen, die immer umeinander spielen, man hört die ganz präzis gesetzten Instrumente – andererseits schreit es ja wirklich in jedem einzelnen Klang, wirkt extrem verzweifelt, dieses Hin und Her zieht im Ohr emotional.    

Aki Takase La Planète:
Tarantella. „Flying Soul“, rec. 2012. Aki Takase (p, celesta), Louis Sclavis (cl), Dominique Pifarely (vl), Vincent Courtois (vc). Intakt Records.
L.N.: Das kommt am Anfang jazzy rüber, mir gefällt, dass die Streicher voll drauf einsteigen, wobei ich es nach wie vor ungewöhnlich finde, die Streicher improvisieren zu hören. Die Musik bewegt sich dann aber in eine andere Richtung,

Feigenwinter 3:
Fluchtpunkt. „Vanishing Point“, rec. 2011. Hans Feigenwinter (p), Wolfgang Zwiauer (el-b, g), Arno Troxler (dr). Unit Records.
L.N.: Klingt für mich unheimlich klassisch, Musik, die ich gern für einen Abend höre. Länger gibt’s mir nichts, weil ich den Eindruck habe, dass das eine Art von Musik ist, in die man sich sehr reinknien kann, um die Unterschiede von verschiedenen Pianisten zu erkennen, das Spannende ihrer Gestaltung. Für mich klingt es ähnlich wie vieles.

NolteGeorg Friedrich Haas:
natures mortes für Orchester, 2003. Donaueschinger Musiktage 2003. SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Sylvain Cambreling (cond). col legno. 
L.N.: Unglaublich raffinierter Umgang mit Klangfarben!. Am Anfang passiert ja eigentlich nichts. Man hat diesen fetten Bläserkern, der völlig unmerklich am Rand einen hellen Horizont bekommt, der ins Irisierende überklappt; dann kommen die Posaunen langsam in einer grösseren Linie raus  –  das sind Sachen, da kann man stundenlang zuhören … Zu schade, dass man diesen Klangkörper, der so etwas spielen kann, kappen will.

Helix:
Dreiblatt-Binse. „Schilf“, rec. 2013. Andreas Stahel (fl),  Roger Girod (p), Jean-Daniel Girod (perc, voc), Tobias Hunziker (dr). Tonus Music.
L.N.: Ist wie eine Landschaft, die vorbeizieht, während man im Zug sitzt, es verändert sich immer, da kommt mal ein Wäldchen, mal ein Bauernhof, eine kleine Stadt oder Ähnliches, keine Eile irgendwo hinzukommen, es geht trotzdem immer weiter; ich war
enttäuscht, als da plötzlich Männerstimmern reinkamen … Es hat aber einen schönen Grundgroove.

Luigi Nono:
Aus „Promoteo – Tragedia dell’ascolto“, 1981, 85. „Promoteo, for singers, speakers, chorus, solo strings, solo winds, glasses, orchestral groups and live electronics, rec. 2003. Solistenchor Freiburg, ensemble recherche, Solistenensemble des Philharmonischen Orchesters Freiburg, Solistenensemble des SWR Sinfonieiorchesters, Experimentalstudio der Heinrich–Strobel–Stiftung des SWR, André Richard, director, Peter Hirsch und Kwamé Ryan (cond). col legno 2- SACD.
L.N.: Ich werd nicht ganz schlau aus diesem Ausschnitt, wirkt etwas statisch und  starr, fängt immer an einem bestimmten Ort an, ich kann jedoch nicht ganz greifen, wo, bin nicht ganz sicher, ob es am kurzen Ausschnitt liegt … Du sagst, dieser Teil dauert 64 Minuten, da will ich mich eigentlich nicht darauf einlassen, weil es der Sache vielleicht Unrecht tut … Im zweiten Ausschnitt hatte ich einfach den Eindruck gehabt, da wird ein unheimlich grosser Raum gebaut, in dem sich einzelne Stimmen hervortun und dann darin verlieren … Im ersten Ausschnitt könnte es sein, dass da eine enorme Spannung entsteht, dadurch dass da einzelne Ereignisse immer wieder geschehen und dann kommt Pause, wo auch wieder ein Raum entsteht … J.A.: Es ist Nonos „Promoteo“ und ich habe die Ausschnitte trotz der Länge der Komposition gewählt, weil dieses Jahrhunderwerk soeben im Rahmen der Festspiele Zürich endlich auch hier aufgeführt wurde, womit sich der scheidende Tonhalle-Intendant Elmar Weingarten einen langgehegten Wunsch erfüllen konnte.  

NolteJoy Frempong and Philippe Ehinger:
L’autre continent. „Les voisins ne parlent pas tout la même langue“, rec. 2012. Joy Frempong (voc, live sampling, loopers), Philippe Ehinger (bcl, keys, loopers). Unit Records.
L.N.:  Da habe ich den Eindruck, da sitzt jemand in seinem stillen Kämmerlein und bastelt an irgendwelchen Geschichten und am Ende kommt eine merkwürdige Skulptur raus. Das wird dann in den Hintergrund gelegt und wer kommt drauf, unter einen Klagegesang so etwas zu legen, ein wunderschöner Kontrast … J.A.: …die müsstest Du eigentlich kennen … L.N.:  ja, das war die Joy.

Thomas Kessler:
Flüchtige Gesänge nach Gedichten von Sarah Kirsch. „Grammont Portrait“, rec. 2012. Collegium Novum Zürich, Mark Foster (cond), Sarah Maria Sun (voc). Musiques Suisses.
L.N.:  Das ist eine Musik, die sehr intelligent ist im Umgang mir der Stimme, die wirklich sehr ernst genommen wird als Instrument, das wirklich in den Corpus eingebaut wird, zugleich aber die Dinge ausnutzt, die ein Instrument ohne Sprache nicht kann und das total leicht zu hören ist, geht sofort ein. Dafür braucht es auch eine gute Sängerin …

Cassandra Wilson:
Blue Skies. „Blue Skies“, rec. 1988. Cassandra Wilson (voc), Mulgrew Miller (p), Lonnie Plexico (b), Terri Lyne Carrington (dr). Winter & Winter. 
L.N.:  Sie kreiert extrem viel Stimmung. Es schwankt die ganze Zeit in der Stimmung, habe ich den Eindruck, sie singt am Anfang von Blue Skies, wobei man den Eindruck hat, da passiert etwas Tottrauriges, am Ende entwickelt es sich tatsächlich zu etwas Gutem und Fröhlichen – das macht sie alles mit ihrer Stimme, ist Miss Wilson.

Lisa, ganz herzlichen Dank für Deinen Besuch.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 4/2014, Juli/Aug. 2014
Text und Fotos © Johannes Anders

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