Johannes Anders
Musik - Journalist

L I S L O T  F R E I

Text und Fotos: Johannes Anders

Lislot FreiLislot Frei, geboren 1953 in Zürich, Studium neuer Sprachen an der Universität Bern, Musikstudium (Gesang) an der Musikhochschule Bern bei Ingrid Frauchiger. Pionierin der alten Musik mit verschiedenen Ensembles, neue Musik u.a. im IGNM-Vokalensemble bei Hans-Eugen Frischknecht und als Solistin vieler Uraufführungen (z.B. Daniel Glaus), Musiktheater für Kinder (KiKo) mit Marc-Philippe Meystre, Gabriela Kaegi und Simon Ho. Kulturpolitisches Engagement als Präsidentin des FrauenMusikForums Schweiz (heute Forum Diversität), Organisation von Festivals und Konzertreihen mit Schwerpunkt Komponistinnen/Improvisatorinnen. WoZ-Kolumnistin, Autorin des Labels Intakt, Co-Herausgeberin des Berner Almanachs Musik, Co-Autorin im Buch „Jazz in der Schweiz“. Seit gut 20 Jahren Musikredaktorin und Moderatorin bei SR DRS2 (heute SRF Kultur), leitet seit 2 Jahren die Redaktion Musikjournalismus mit den Flaggschiffen Musikmagazin und Diskothek im Zwei, ist dort verantwortlich für die permanente journalistische Begleitung der Schweizer Musikszene, Aussenauftritte (z.B. Lucerne Festival), Schwerpunkttage (z.B. John Cage, Improvisation) und vieles andere. Lebt in Basel, gärtnert Terrassen, trommelt Fasnacht und tanzt Flamenco.

KATHARINA WEBER (*1958):
FALLING ASLEEP, György Kurtág - IMPROVISATION II, Trio (“Games and Improvisations - Hommage à György Kurtág“, rec.2011. K. Weber, p, Barry Guy, b, Balts Nill, dr. INTAKT-CD).
LF: Habe ich das richtig  gehört, Klavier, Bass, Schlagzeug? Ist das die Irene? JA: Nein, aber am Anfang war Klavier solo… LF: …Klang wie Ligeti, aber es ist improvisierte Musik? JA: Nur der Trioteil, der übrigens Bezug nimmt auf den ersten Teil, der komponiert ist. LF: Dann ist es die Kathi mit Balts Nill und Barry Guy und am Anfang Kurtág - toll, toll. Kurtág ist ja der grosse Liebling von Katharina Weber. Ich hab ja mit ihr studiert, sie hat mich begleitet an meinem Lehrdiplom und ich kenne sie sehr gut; dass sie aus einem “klassischen“ Komponisten so etwas macht, ist eine tolle Idee und man kommt nicht unbedingt drauf, über Kurtág zu improvisieren, aber es funktioniert bestens. Und was ich interessant fand: als das Schlagzeug kam, klang es, als ob es im Klavier drinsitzen würde klanglich, ganz eigenartig, wie ein Zauberlehrling, der seine Sachen dazu macht. Und der Bass unglaublich dezent, nur ein paar Grundierungstöne… Ich war die ganze Zeit nur auf Entdeckungsreise, was machen die und auf welchen Instrumenten und ist das Ganze komponiert oder nicht - höchst faszinierend, da mitzugehen.

GIORGIO BATTISTELLI (*1953): AFTERTHOUGHT - 2005 (“L’Anarca“, rec. 2006. Ensemble Recherche, Leitg. Roland Kluttig. Ricordi Oggi Stradivarius-CD).
LF: Pure Orchestergewalt, Grossstadtgewalt, geordnetes Chaos, vor allem viel Blech, viel Schlagzeug, Lust am Vollmundigen, könnte Varèse sein, interessant das Vierermetrum, der Schlag, der durchgeht, aber dann gibt es doch Störfaktoren, die sich rhythmisch dagegenstemmen, erzeugt bei mir den Eindruck von Kampf, von Krieg, von Streit, aber auch von einer unglaublichen Energie, die mich wie in einem Strom mitreisst.

Lislot FreiYVES THEILER TRIO (*1987 Zürich):
RASANT - Theiler (“out of the box“, rec. 2011. Y. Theiler, p, Valentin Dietrich, b, Lukas Mantel, dr. UNIT-CD).
LF: Da hast Du mir ein Klaviertriogeschenk gemacht, wunderschön; erst dachte ich Rusconi, dann E.S.T.,  aber wahrscheinlich ist es keins von beiden, wie eine Mischung von beiden…, am besten hat mir das zweite Zwischenspiel gefallen, dieses Lyrische, total minimalistisch; interessant war, jeder ist auf seiner eigenen Schiene gefahren, der Bass hat so selbstvergessen vor sich hingezupft, der Schlagzeuger hat “beselet“ und das Klavier hat auch sparsam seinen Töne gespielt und dennoch hat es ein Ganzes gegeben. Das fand ich viel interessanter, als gegen Ende das quasi normale Jazzige mit diesen bekannten Skalen. Der Anfang war so schön weich federnd, dann gabs noch ein leicht hinkendes, ironisches Zwischenspiel - ich fands wunderbar und auch poetisch.

DREI RUNDE GEBURTSTAGSJUBILÄEN 2012: 
1.)
SERGIO CELIBIDACHE, 1912-1996, zum 100. Geburtstag. (“Celibidache Bruckner” und W.A. Mozart, Symphony No. 35 in D major, 4. Satz Presto. SWR Stuttgart Symphony Orchestra, rec. 1976. DG-8CD-Box).
2.) CLAUDE DEBUSSY, 1862-1918, zum 150. Geburtstag (“Friedrich Gulda - Schubert, Debussy, Ravel“. C. Debussy: Toccata Vif, F. Gulda, Klavier, rec. 1957. Andante-4CD-Box).
3.) SÁNDOR VÉGH, 1912-1997, zum 100. Geburtstag (”Béla Bartók - Sämtliche Streichquartette Nr. 1-6”, rec. ca.1970.Végh Quartett. Aus Quartett Nr. 4, letzter Satz Allegro molto. Telefunken 3CD-Box.      
LF: (Zu 1:) Da ja nicht Mozart das Geburtstagskind ist, muss es der Dirigent sein. Der Zugriff klingt wie die heutige historisierende Aufführungspraxis, das Tempo ist fast noch drüber über dem Schnellen, was man heute gewöhnt ist, über René Jacobs, das Tempo ist fast Toscanini-like…, komm nicht drauf, finds aber umwerfend. J.A.: Die Aufnahme ist von 1976… LF: …echt, ich glaubs ja nicht, dachte es sei 50er Jahre. JA: Es ist Sergio Celibidache. LF: … ich glaubs ja nicht, der Langsamdirigierer, wow, endlich eine Aufnahme mit Celi, die mir gefällt - super. (Zu 2:) JA: Keines seiner bekannten Hits… LF: … aber unverkennbar Debussy. Grossartige Musik! JA: Es gibt ja sehr viel grossartige Debussy-Interpreten… LF: … was mir hier gefällt, ist das sehr zupackende Spiel mit viel Klarheit, nicht so parfümiert, lyrisierend, verwischend, wie viele Pianisten es meinen, spielen zu müssen, weiss aber nicht, wers ist … JA: …aufgenommen 1957 … LF: … ist es Gilels? JA:  … nein, es ist Gulda. LF: .. hätte ich fast sagen wollen, er ist umwerfend, toll, als Debussy-Interpret unterschätzt! (Zu 3:) LF: Das ist Ungarn und da gibt es eine Reihe Namen, vermutlich Bartók oder Veress. Weil ich das Stück nicht kannte, kann ich schlecht etwas über die Interpretation sagen, bin nicht so gut in Streichquartettliteratur. JA: Es ist das berühmte Végh-Quartett.

Lislot FreiIRÈNE SCHWEIZER (*1941):
BLEU FONCÉ - I.Schweizer (“Many and One Direction”, rec. 1996. Irène Schweizer, p. Intakt-CD).
LF: Ja .. das muss eines von Irènes typischen Zugabestücken sein, ich erinnere mich an ihr Konzert im KKL vor ein paar Jahren, da gabs auch so eins  - ich persönlich mag diese afro-amerikanische Seite von ihr unheimlich gern. Was Wunder, das kommt als ganz „normaler“ Blues daher, also starker Wiedererkennungswert, dazu dieser kraftvolle Drive und der klare Anschlag, das klingt einfach so selbstverständlich richtig. Was ich aber am Allerschönsten bei ihr finde: Dass sie aus ganz wenig ganz viel machen kann, aus einem ganz kleinen Motiv etwas erfinden kann, mit dem sie mich schwindlig spielt.

GEORG FRIEDRICH HAAS (*1953): NATURES MORTES, 2003 (“Donaueschinger Musiktage 2003“. SWR Sinfonieorchester, Leitg. Sylvain Cambreling. Ausschnitt. col legno-CD).
LF: Was interessant ist, ich höre nur zwei Schichten, am Anfang so ein flirrender Streichervorhang und dann fangen vor diesem Vorhang grosse muskulöse Männer an, grosse Steinblöcke herumzuschieben - dieses mächtige Blech, das etwas an Wagner erinnert, dieser Rhythmus, der irgendwo zwischen gebunden und frei ist und eine Art mächtiges Pulsieren entwickelt - und irgendwann habe, ich den Eindruck, können die Streicher nicht anders, als in diesen seltsamen Rhythmus einzustimmen, der dann noch eine spiralförmige Abwärtsbewegung hat. Langsam geht es Richtung Höllenschlund und das Ganze entwickelt einen solchen Sog und kommt einem langsam so nahe, dass ich am Schluss das Gefühl hatte, diese Reise könnte auch körperlich ziemlich unangenehm werden…

FEIGENWINTER 3 (*1965): GLASUR, Feigenwinter (“Vanishing Point“, rec. 2011. Hans Feigenwinter, p, Wolfgang Zwiauer, b, Arno Troxler, b. UNIT-CD).
LF: Das muss E.S.T. sein, ist es nicht? Aber ich könnte das tagelang hören… JA: … ich auch. LF: Hier verstehe ich, was die Jazzer meinen, wenn sie sagen, es groovt - ist ein rhythmisch strukturierter Klangstrom, der auch etwas Kreisendes hat, mich auf einen Wellenritt mitnimmt… bin total fasziniert von diesem Trio. JA: Der Pianist kommt aus Basel und heisst Hans Feigenwinter. LF: … was der Hans, ich glaubs ja nicht, Kompliment Hans, super!

Lislot FreiMARIANNE RACINE (*1956) :
MORMORS JULSTJÄRNA (“Vinter – Tuliaisia 2 & 3000 män”, rec. 2011. Marianne Racine, voc. Vera Kappeler, p, Harmonium, voc, 3000 män backing vocals. Lunatic-CD).
LF: Nett, dass du eine Musik bringst, die ich kürzlich besprochen habe! Marianne Racine ist das, na ja nicht schwierig, sie singt schliesslich schwedisch - das klingt sehr nach Volkslied oder Kinderlied, aber trotzdem macht sie ganz leichte Jazzphrasierungen und bricht damit diesen naiven Klang ein bisschen, gefällt mir gerade deswegen so gut. Dazu diese hüpfenden Klänge in der Begleitung, ich weiss, dass hier Vera Kappeler Harmonium spielt, auch sie tut ganz harmlos und ländlich und schmuggelt dann doch so unerwartete „falsche“ Töne rein, auch rhythmisch - die habens faustdick hinter den Ohren, die Beiden.

IGOR STRAVINSKY (1882-1971):
LES NOCES - Chansons Russes (“Stravinsky - Les Noces“, Ausschnitt. Chœurs et solistes de l’Orchestre du Théatre National de l’Opéra, Paris, Direction: Pierre Boulez. Guilde Internat. Du Disque-LP).
LF: Das ist aus “Les Noces“  von Stravinsky, ich kenne das gut, weil ich das Stück selbst im Chor gesungen habe - ein geniales Stück Musik des 20. Jahrhunderts, auch von der Besetzung her. Basis ist die russische Volksmusik und ihre Rhythmen, die thematische Gestaltung fusst auf russischen Hochzeitsriten. JA: Dieses Beispiel bezieht sich auf die kürzliche Pressekonferenz der Tonhalle-Gesellschaft, bei der Intendant Elmar Weingarten die neue Reihe “Saison russe“ vorstellte und u.a. ganz begeistert vom vorliegenden Werk sprach und von den vier Pianisten, die zum Einsatz kommen (Tonhalle Orchester unter David Zinman, 20. + 21.3.2013).

Lislot FreiWITOLD LUTOSŁAWAKI (*1913):
PIANO CONCERTO - 1987/88 - 2. Satz Presto - atttacca (”Witold Lutosławski – Piano Concerto”, rec. 1990. BBC Symphony Orchestra, Leitung Witold Lutosławski, Krystian Zimerman, Piano. DG-CD).
JA: Auch die zwei weiteren Beispiele beziehen sich auf die Tonhalle-Pressekonferenz und wurden von Intendant Weingarten ebenfalls speziell hervorgehoben. LF: …ist Postmoderne, also zweite Hälfte 20. Jahrhundert, mit Effekten, die erst nach dem 2. Weltkrieg kamen, aber auch Anklänge an die Tradition nicht scheut, die jede Menge Überraschungen bereithält - ist Musik, die Spass macht, die aus dem Vollen schöpft, die dem Pianisten ordentlich was zutun gibt, die dazwischen auch rhythmisch gebunden ist und man mitwippen kann - tolles Stück. (Tonhalle Orchester unter David Zinman, ebenfalls mit Krystian Zimmerman: 06., 7.2. und 8.2.2013).   

GEORGE BENJAMIN (*1960):
DUETT FÜR KLAVIER UND ORCHESTER  2008, UA (“Lucerne Festival 2008“, Auftragswerk der Roche Commissions. The Cleveland Orchestra, Leitung Franz Welser-Möst, Pierre-Laurent Aimard, Klavier. DRS 2 2008).
LF: …klingt, als ob es das neueste der drei Beispiele ist; was mich fasziniert hat, ist das sehr geschäftige Klavier, das viele Töne in kurzer Zeit hingelegt hat, mit Geigenklängen, die eine Weile wirkten, als ob sie versuchten, das Klavier zu besänftigen, die dann aber kapitulieren mussten und in diese Geschäftigkeit einschwenkten - wahnsinnig vitale, lebendige, überraschende Musik, muss einer der Grossen sein… (“Der dirigierende Komponist“, George Benjamin mit dem Tonhalle Orchester, Roger Muraro, Klavier: 14., 15. und 16. 11.2012).

Lislot, danke fürs Mitmachen.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 4/2012, Juli/August
Fotos © Johannes Anders

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