Johannes Anders
Musik - Journalist

P E T E R   R Ü E D I

Text und Fotos: Johannes Anders

Peter Rüedi zu BesuchAm 15.1.1943 in Basel geboren. Nach früher Kindheit in Mailand und Como aufgewachsen in Arbon TG. Studium der Germanistik (Walter Muschg), Geschichte (Edgar Bonjour, Werner Kaegi), Psychologie  (Hans Kunz) in Basel. Arbeit an einer Dissertation bei Walter Muschg bis zu dessen Tod 1965. 1980 bis 1982 Dramaturg an den Staatlichen Schauspielbühnen Westberlins. 1982-1989 Chefdramaturg Schauspielhaus Zürich. 1985 bis 1997 Stiftungsrat der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia . Kolumnist NZZ FOLIO. 1990  Mitbegründer und von1991-1999 Stiftungsrat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau. Zahlreiche Publikationen im Bereich Literatur, Theater, Musik. Herausgeber des Briefwechsels Max Frisch-Friedrich Dürrenmatt (Diogenes 1998). Lebt in Tremona TI und arbeitet an einer Biografie über Friedrich Dürrenmatt, deren erste Tranche im Herbst 2011 bei Diogenes erscheinen soll.

HERBIE HANCOCK, WAYNE SHORTER, DAVE HOLLAND, BRIAN BLADE:
V, W. Shorter (“Festival jazzbaltica 2004“. H. Hancock, piano, W. Shorter, sax, D. Holland, bass, B. Blade, drums. TV 3sat live).
PR: Den Tenoristen wie den Pianisten kenne ich, kann sie aber im Augenblick wie man so sagt nicht verorten. Die Musik zeichnet sich durch etwas aus, das im Jazz allzu oft unter dem Primat eines gewissen Vitalismus, einer Expressivität à tout prix, unter die Räder kommt, nämlich Dynamik. Nicht so hier: hier wird unheimlich mit Raum gearbeitet, mit einer gewissen Dringlichkeitstufe, im volkstümlichen Wortsinn mit Dynamik, der Verdoppelung der Rhythmik nach diesen getragenen, flächigen Tenorsounds – das ist wahnsinnig gut, tolle Musik, eine grosse Freude. 

PIERRE LAURENT AIMARD / AKA PYGMIES:
YANGISSA, Aka Pygmies. / ETUDE NO. 8, György Ligeti (“African Rhythms – Ligeti / Reich“, rec. 2001/2. Aka Pygmies, Gesangs-Trommel- und Tanzgruppe a. d. Zentralafrikan. Republik, P.-L. Aimard, piano. Teldec-CD).
Ein Interview von Johannes Anders.PR: Da weiss man eigentlich nicht genau, ist das “Folklore Imaginaire“, richtige Folklore oder eine Verbindung von beiden. JA: Es ist eine echte afrikanische Gruppe. PR: Wunderbar dabei zu hören, das Polyrhythmik die gleiche Kulturleistung ist wie Polyphonie. Das ist etwas, was wir Abendländer zu oft vergessen, abgesehen von den immer etwas zu puristischen Musikethnologen, obwohl uns das dann auf vitale Weise schon hauptsächlich der Jazz in den 40er, 50-er Jahren durch Art Blakey und andere ins Bewusstein gerückt hat. JA: Und  was sagst Du zum Komponisten des Klavierstücks? PR: Da bin ich ratlos, offenbar nimmt er Bezug zu diesen afrikanischen Rhythmen. JA: Der Komponist ist György Ligeti und auf dieser CD wechseln sich die afrikanischen Stücke mit Etüden von Ligeti ab. PR: Eine fabelhafte Sache, sehr interessant, danke für den Tipp, die Aufnahmen muss ich mir beschaffen.

KEITH JARRETT (*1945):
1.)  MOVING SOON, K. Jarrett (“Somewhere Before“, rec. 1968. K. Jarrett, piano, Charlie Haden, bass, Paul Motian, drums. Vortex-LP).
2.)  FLORA’S SONG, F. Purim (“Airto Free“, rec. 1972. Airto, perc, wood flutes, Keith Jarrett, piano,  Hubert Laws, flute, Ron Carter, bass, Joe Farrell, sax, flute, and others. CTI-LP). 
3.)  IMPRO OHNE TITEL (“Miles Davis Group live in der Stadthalle Dietlikon, Auszug, rec. 22.10.1971. M. Davis, trumpet, K. Jarrett, fender rhodes, Gary Bartz, sax, Michael Henderson, fender bass, Leon Chandler, Don Alias, percussion. DRS2 1990). 
PR: Beim ersten Stück dachte ich einen Moment lang, das sind Irène Schweizer, Han Bennink, Joëlle Léandre in Willisau… JA: … sie wird sich geehrt fühlen … PR:  Das zweite kam mir vor wie Ethno-Kitsch, wie es das Label CTI eine zeitlang als Spezialität gepflegt hat - und das dritte habe ich als Miles in Dietlikon im Ohr, eines der wenigen Beispiele mit Keith Jarrett am E-Piano. Das war genau der Sound jenes Konzerts von 1972, an das ich mich gut erinnere - sehr eindrücklich. Ich war in beiden Konzerten… JA: … ich auch… PR: …und die alten Miles-Davis-Fans sind in Scharen rausgelaufen. Der wunderbare alte Bildhauer Hans Aeschbacher hat lauthals ausgerufen: „V e r r ä t e r!“ in seinem unverkennbaren Duktus - die waren alle restlos verstört. Mich hat das damals sehr beeindruckt - es war zwar elektronische Musik, aber sie war wahnsinnig organisch und hat unheimlich geatmet. Was der Miles selber gemacht hat, war garnicht so wichtig, das waren mehr oder weniger fragmentarische Einwürfe. Aber was da an Raum stattfand, das war sehr eindrücklich und das hat man auch hier wieder gehört.

Rueedi und Anders im Dialog. DIETER AMMANN (*1962):
1.)  APRÉS LE SILENCE, 2004/5 (“Lucerne Festival 2005 – Neuland“. Tecchler Trio, Esther Hoppe, Violine, Maximilian Hornung, Violoncello, Benjamin Engeli, Klavier. DRS 2 2005).  
2.)  ORDER NOW (”Donkey Kong’s Multiscream”, rec. 2005. D. Ammann, comb. trumpet, synth., bass. Roland Philipp, sax, Chris Muzik, guitar, Thomy Jordi, bass, Andy Brugger, drums, Andi Pupato, percussion. Privat-CD).
JA: Das erste Beispiel ist durchgehend auskomponiert! PR: Von einem Jazzhorizont her gesehen, hat die Vorstellung fast etwas in Anführungszeichen perverses, dass so etwas rhythmisch intensives, vitales ausgeschrieben ist, bis auf den letzten Hüpfer des Bogens und das Spielen am Steg. Beim ersten muss man schon sehr aufpassen, um zu merken, dass das nur ein Trio ist; das ist dermassen reich an Klangnuancen, Klangfarben, an differenzierter Intonation – etwas, was die Klassik lange vernachlässigt hat und was lange Zeit die Spezialität des Jazz war. Das war sehr eindrücklich. Zweitens ist mir aufgefallen, dass das unverkennbar ein Mensch mit Humor ist, es ist witzige Musik, die einen pausenlos mit Überraschungen überfällt und auf dem falschen Bein erwischt… Die zweite Formation beeindruckt durch einen sehr soliden, dichten Zusammenhalt, die sind so satt im Groove… Stellenweise hat mich das - obwohl es nicht diese Komplexität hat - fast an die besten alten Sextette von George Russel mit Don Ellis und Eric Dolphy erinnert. Erstaunlich, tolles Niveau.  JA: Mit den beiden Stücken wollte ich die zwei Seiten eines immer bekannter werdenden Schweizer Komponisten und Musikers vorstellen - jungwirkend, obwohl schon 1962 geboren. Er hatte letztes Jahr die Ehre, beim “Lucerne Festival im Sommer“ composer-in-residence zu sein, wo avantgardistische Kompositionen Neuer Musik von ihm gespielt wurden, er aber auch seine im Beispiel 2 gezeigte Rock-Funk-Gruppe „Donkey Kong’s Multi Scream“ vorstellen konnte. In einem Konzert des Lucerne Festival Academy Orchestra wurden zudem neben Werken von Anton Webern und Skrjabin auch zwei Kompositionen von ihm gespielt, dirigiert von keinem Geringeren als dem grossen Pierre Boulez.

FAIRUZ (*1934):
AMMAN (“The Legendary Fairuz“ – Lebanon, P 1997. Fairuz, Vocal, Orchestra Rabhani. EMI-Arabia-CD).
JA: Nach der 1975 in Kairo gestorbenen Gesangsikone Oumm Koulssoum ist die Libanesin Fairuz die einzige noch lebende Sängerin mit Kultstatus im nahöstlichen arabischen Raum.  PR: Den Namen kenne ich, aber ich konnte nie etwas damit verbinden – aber tolle Musik, west-östlicher Diwan sozusagen.

JIMMY GIUFFRE 3 (1921-2008):
WHIRRR (“Emphasis, Stuttgart 1961“. Jimmy Giuffre, cl, Paul Bley, p, Steve Swallow, b. hat ART-CD).
PR: Sehr guter Klarinettist, mit klassischer Formation… JA: Alle drei sind aber Jazzmusiker... PR: …der Klarinettist hat aber mit Sicherheit eine klassische Ausbildung hinter sich. Mir kommt in diesem Zusammenhang eigentlich nur der Louis Sclavis in den Sinn, aber ich kenne keine Aufnahme von ihm, die in dieses Raster passt. JA: … ist für mich eine der „Einsame-Insel-Platten“!. PR: Dann ist es eine der berühmten Jimmy Giuffre-Formationen - spielt hier aber absolut untypisch, hat hier fast einen Buddy DeFranco-Ton drauf, so hart und geschliffen, ist Hartholz und nicht Balsaholz wie bei seinen Trios mit Jim Hall (“The Train and the River“); ist vermutlich der spätere Giuffre … JA: …nein, die Aufnahme ist von 1961. PR: Sensationell, unglaublich, wahnsinnig avanciert !  

Rueedi zu Besuch bei Johannes AndersCARMEN MCRAE (1920-1994):
WEEP NO MORE (”Tonight Only”, The Dave Brubeck Quartet, Guest Star Carmen Mc Rae, rec. 1963/64. Carmen Mc Rae, voc, Dave Brubeck, p, Paul Desmond, as, Eugene Wright, b, Joe Morello, dr.Philips Fontana-LP).
PR: (reagiert sofort) Das ist Carmen McRae! Wer war übrigens der Pianist bei der Sarah Vaughan, der war auch nicht schlecht? JA: Der hiess George Gaffney. PR: (lacht, lacht…) –natürlich grossartig, die Carmen McRae. Ich nehme den saublöden Satz von vorher zurück, es gäbe drei ganz grosse Sängerinnen, nämlich Ella Fitzgerald, Billie Holiday und Sarah Vaughan, hatte diesen Satz dann aber gleich relativiert und gesagt, es gibt ja auch noch die  Shirley Horn, es gibt natürlich auch die Carmen McRae, die Anita O’Day; in diesem Bereich von Song Styling gibt es überhaupt einige unvergessliche Figuren, es ist eigentlich eine Kunst, die ausgestorben ist, muss man fast sagen, auch mit dem Tod von Sinatra, den Jazzfans immer nur mit spitzen Fingern angefasst haben.  JA: Der Pianist und wunderbare Begleiter von Carmen McRae war hier übrigens Dave Brubeck, dem damals manche Jazzpuristen auch mit gewissen Vorbehalten begegnet sind. Er spielte hier zusammen mit Eugene Wright und Joe Morello; bei einigen Titeln dieser LP ist auch der legendäre Paul Desmond mit dabei, also das berühmte Dave Brubeck Quartet. PR: Ich suche übrigens seit Jahren eine Dave Brubeck Quartet-Platte mit dem Titel “Jazz goes to Junior College“, nicht „…to College“, die ebenfalls bei uns auf Philips Fontana erschien,mit einem „Basin Street Blues“  drauf, dass es Dir die Haare sträubt, so gut ist das. Und noch etwas suche ich: “Don’t Missunderstand“, eine Liveaufnahme mit Carmen McRae.

DIDIER LOCKWOOD (*1956):
ANATOLE BLUES  (“New York Rendez-Vous“, rec. 1995. Didier Lockwood, viol., Dave Liebman, sax, Dave Kikoski, p, Dave Holland, b, Peter Erskine, dr. JMS-CD).
PR: Reine Coltrane-Skales… - ziemlich virtuos; solche halsbrecherischen Unisonopassagen hat es eigentlich seit dem Bebop nicht mehr gegeben. Ob der Geiger Lockwood, Ponty oder Pifarély war, kann ich nicht genau sagen, einer von den Dreien muss es sein, aber wahnsinnige Aufnahme, marschiert mördermässig geradeaus, weshalb ich auf Lockwood tippe.  

ERROLL GARNER (1921-1977):
NO GREATER LOVE (“Giant Jazz Gallery - Erroll Garner“, rec. 1953. E. Garner, p, Wyatt Ruther, b, ”Fats” Heard, dr. Philips-LP).
PR: Erroll Garner, natürlich wunderbar ­- das ist zwar Unterhaltungsmusik, wenn Du so willst, aber es ist weit von jeder Banalität entfernt, es hat einen solchen Atem und eine solche Delikatesse…- ist „No greater love“. JA: Von dem Titel gibt es auch wunderbare Gesangsaufnahmen… Bruno Rub und ich wollten schon lange mal eine ganze Nacht nur mit Sängerinnenaufnahmen machen… PR: Da komme ich dann aber auch dazu !

Peter, herzlichen Dank, dass Du aus dem Tessin angereist bist.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 3 / 2011
Fotos © Johannes Anders 

 

zurück