Johannes Anders
Musik - Journalist

S Y L W I A Z Y T Y N S K A

Text und Fotos: Johannes Anders

Sylwia Zytynska wurde1963 in Warszawa (Polen) geboren. Sie studierte Schlagzeug an der Akademia Muzyczna in Krakow und an der Musikhochschule Basel. Seither konzertierte Sie als Solistin und Kammermusikerin auf vielen Bühnen der zeitgenössischen Musik und spielte zahlreiche CD- und Rundfunk-Aufnahmen ein. Sie war über 10 Jahre festes Mitglied des „Ensembles 13“ in Karlsruhe, spielte viele Konzerte im Duo mit dem Geiger Egidius Streiff, sowie auch mit dem Quartett „e-motion“ (mit dem Saxophonisten Marcus Weiss, dem Gitarristen Maurizio Grandinetti und dem Pianisten Paolo Alvarez). In den letzten Jahren stehen vermehrt eigene Projekte, Performances und Kompositionen im Mittelpunkt ihres Schaffens. Seit zehn Jahren verbindet sie mit dem Trio “selbdritt“ mit Marianne Schuppe (Stimme) und Alfred Zimmerlin (Cello) eine intensive Improvisationsarbeit. Ihr besonderes Interesse für Musiktheater, Neue Musik und Performances führte sie 1991 zum Festival “Neue Musik Rümlingen“, wo sie seither in der Programmgruppe mitwirkt. Sylwia Zytynska unterrichtet seit 1985 Schlagzeug an der Musik-Akademie der Stadt Basel. Sie war Composer of the Week beim “Musikmonat“ 2001 in Basel und erhielt im selben Jahr den Kulturpreis der Alexander Clavel- Stiftung. Seit Oktober 2004 leitet Sie im Kulturzentrum Gare du Nord in Basel ein eigenes Gross-Projekt für Kinder und mit Kindern, den “Gare des Enfants“. Für diese Arbeit wurde sie kürzlich mit dem Lily-Wäckerlin-Preis für "Jugend und Musik" ausgezeichnet.  Seit rund drei Jahren diskutiert sie mit Thomas Adank und Thomas Meyer in der jeden Mittwoch von 21– 22 Uhr bei DRS2 stattfindenden Sendung “Musik unserer  Zeit“ CD-Neuerscheinungen zeitgenössischer Musik. Sylwia Zytynska hat zwei Kinder und lebt in Basel.

POLNISCHE MUSIK:

1.) POLSKI JAZZ ENSEMBLE, SPRECHER GERT WESTPHAL:
CHORAL / KRZYSZTOF KOMEDA - STANISŁAW LEC: FREIHEIT, GLEICHHEIT, 
BRÜDERLICHKEIT (“Der Walzer vom Weltenende  – Jazz & Lyrik aus Polen“, rec. 
1985. Auswahl und Zusammenstellung: J. E. Berendt. WERGO-LP).

2.) ANNA MARIA JOPEK & ENSEMBLE:
KOŁYSANKA ROSEMARY/ KRZYSZTOF KOMEDA (“Barefoot“, rec. 1999.   
A.M. Jopek, voc, Marcin Wasilewski Trio & Tomasz Stańko, trumpet. Universal Polska-CD).

3.) ZBIGNIEW SEIFERT (1946-1979):
     BIRDS („Solo Violin“, rec.1976. EMI/Polonia Rec.-LP).

4.) ZBIGNIEW SEIFERT - ALBERT MANGELSDORFF DUO:
     RUBATO (“We’ll Remember Zbiggy“, rec. 1976 Donaueschinger Musiktage. Z. Seifert,
violine, A. Mangelsdorff, trombone. Moods Records-LP).

SZ: (Zu 1): Wusstest Du, dass mein Bruder politische Satiren schreibt, er ist einer der bekanntesten polnischen Satiriker… Woher kommen diese Aufnahmen, sie sind eine absolute Überraschung? Der erste Text muss von Lec sein… Die Musik ist so typisch polnisch, eine Stimmung aus den 80er Jahren, die mich heute noch packt, obwohl ich keine besondere Beziehung  zu Jazz habe.Aber das Pathos der Stimme in diesen direkten Texten stört mich, auch die deutsche Übersetzung und es stört mich auch, dass hier wunderbare Musiker am Werk sind, aber die Musik nur illustrierend wirkt. Zu 2: Die CD habe ich mal in der Hand gehabt, ist das die Jopek? – ist ein Wiegenlied für Rosemaries Baby. Polen ist voll von diesen Liedern und ich frage mich, woran es liegt, dass diese Musik im Westen so wenig Anklang findet, was ist da so fremd, ist es das typische polnische Baden in Gefühlen, auch dass im Westen Tränen als Schwäche gelten?  Bei 3 frage ich mich die ganze Zeit, ist das komponiert oder improvisiert, klingt doch die ganze Volksmusikpalette des Südens von Polen an. Es ist nicht die Person, die das spielt wichtig, sondern das Stück und es geht nicht um die Stimmung, sondern um die Musik selbst – eine wahnsinnig schöne, berührende, klare Aussage. Ich kenne aber keinen polnischen Geiger, der das so machen kann, was mich ganz verrückt macht – aber wunderbar. Auch 4 gefällt mir, wahnsinnig schön, der Posaunist ist aber kein Pole …, scheint mir, wie ein Dialog von zwei Welten, schön der Aufbau, die Ausbrüche der Geige extrem polnisch, die Posaune sparsam, eher zurückhaltend; und dass das 1976 in Donaueschingen gespielt wurde – Hut ab vor Donaueschingen. - Wie kommst Du auf all die Sachen? Ich bin verblüfft, mit diesen Beispielen packst Du den ganzen Menschen, hast mich damit tief in meine Vergangenheit reingebracht, phantastisch.

KARL AMDEUS HARTMANN (1905-1963):

CONCERTO FUNEBRE FOR VIOLIN SOLO AND STRING ORCHESTRA, 2. SATZ ADAGIO / 1939 (“Violin Concertos - Berg, Janáček, Hartmann”, rec. 1990. Deutsche Kammerphilharmonie, Thomas Zehetmair, violin & conductor. Teldec-CD).

SZ: Es ist Musik, die mit der Seele Bilder malt, eines der schönsten Stücke, die man hören kann, von jemanden, der wunderbar direkt, offen, ohne Allüren, wie selbstverständlich zu einem spricht; diese Musik kann sehr süss, sehr kitschig sein, sie ist es hier aber nicht! Der Klang dieser Aufnahme, das Orchester wie der Geiger, sind so direkt und miteinander verschmolzen, also nicht hier der Solist, dort das Orchester, dass einem die Tränen an den Wimpern hängen, wunderschön.

YAN MARESZ (*1966):

FESTIN / 1999 (“Lucerne Festival Sommer 2008”. Lucerne Festival Percussion Group, Leitung Michel Cerutti. DRS2 Sat RADIO).

JA: Du hast mal gesagt, dass dir Schlagzeugmusik meistens nicht so zusagt, ich spiele trotzdem etwas. SZ: Das hier finde ich sehr spannend, gutes Stück, ein perfekt eingespieltes Ensemble, mit Leichtigkeit, Sinn für Klang, sehr gut und transparent aufgenommen… (nennt drei Namen bekannter Ensembles), was, die sind es nicht, jetzt haust Du mich aber um, wer ists?. Nicht zu fassen, das hätte ich nicht gedacht, beeindruckend, sind alles junge Leute, Hut ab.

OLIVIER MESSIAEN (1908-1992):

ÉCLAIRS SUR L’AU-DELÀ (“Éclairs sur l’Au-delà“, rec. 2008, Auszug. Wiener Philharmoniker, Ingo Metzmacher. Kairos-CD).

SZ: Eine Linie, eine Aussage, ein Atem, wunderbar gezogene Bögen, du stehst auf einem Berg und hast einen riesen Horizont, mit Bergen, Seen, Wäldern, mit Licht, wunderschön, aber zuviel Vibrato. Wer ists? Ich mag Ingo Metzmacher sehr, er sucht sich immer spezielle Stücke…

 

FRÉDÉRIC CHOPIN (1810-1849):

ETÜDE F-MOLL, OP.25, Nr. 2, Presto

1.) FRIEDRICH GULDA (1930-2000): “The First Recordings“, 1:24, rec. 1947. DECCA-CD.

2.) GRIGORY SOKOLOV (*1959): “Chopin“, 1:36, rec. 1985. OPUS 111-2CD).

3.) PIERRE-LAURENT AIMARD (*1957): „Lucerne Festival Im Sommer 2007 – Artiste  
étoile – Moderne 4 - Klaviermatinee“, 1:24.  SR DRS2 2007.

SZ: Kann ich die erste noch mal hören… Ein Vergleich ist sehr schwierig, weil das Stück sehr gerade ist. Rubinstein erkenne ich z.B. sehr gut an seinen Rubati, bei den Etüden bin ich von Pollini geprägt, aber der ist nicht dabei. . Die erste Aufnahme ist sehr klar, sehr ungewöhnlich, mit wenig Rubato und ich habe etwas Mühe mit dem Klang, an dem man ja auch so mache Interpreten erkennen kann. 2 ist mir zu schnell, es rennen die Perlen nur so runter, aber so einen genialen Schluss habe ich noch nie gehört. Nach den vielen Perlen, die einen fast atemlos machen, geht hier die Sonne auf, was einen ebenfalls wieder atemlos macht. 3 könnte für mich von einem Chopin-Wettbewerb stammen, fast zu akademisch, toll gespielt, aber gegen Schluss geht er weiter, weiss, wo er hinwill, lässt es irgendwie offen. JA: Du hast recht, das Stück ist eingebettet in ein Klavierkonzert mit intelligentem, beziehungsreichem Aufbau von Stücken verschiedener Komponisten. Am liebsten höre ich 2, das ist spannende Musik, beeindruckend, wer ists? Eine Entdeckung!

JOHN CAGE (1912-1972):

CREDO IN US / 1942 (”Music Before Revolution“, rec. 1972. Ensemble Musica Negativa, Leitung Rainer Riehn, Christoph Keller, Piano. EMI 4LP-Box).

SZ: Das ist Cage - lacht -, ist “Credo in us“, habe ich viel gespielt, Cage ist meine grosse Liebe, ist das beste Stücke, um Neue Musik beginnen zu mögen; wenn ich mit Studenten arbeite, bringe ich dieses Stück, so haben sie einen leichteren Zugang und verstehen, um was es geht, um diese Möglichkeiten, die diese Musik gibt, diese Freiheit, in der man total gefangen ist, die Raum gibt und Boden, die Spass macht. Damit beginnt unsere Zeit.

TORU TAKEMITSU (1930-1996):

RAIN TREE („Percussion Colors“, rec. 2009. ZHdK Percussion Trio. ZHdK Records-CD).  

SZ: Das ist Takemitsu mit “Rain Tree”, das habe ich gespielt, sehr gelungenes, japanisches Stück, eine sehr spezielle Musik, die eine Welt mit sich bringt, mit spannender Besetzung, eine sehr schöne, direkte Aufnahme. Takemitsu hat einen grossen Aufwand betrieben, um die verschiedenen Klangfacetten und Farben des Vibraphons lebendig werden zu lassen – eine sehr typische, klassische Aufführung, perfekt aber für mich zu clean, es lebt nicht, bewegt mich nicht.   

FRÉDÉRIC CHOPIN (1810-1849):

SCHERZO NO. 3, OP. 39,  IN C SHARP MINOR

1.) ARTHUR RUBINSTEIN / 1878-1982 (“The Chopin Ballades & Scherzos”, 7:17, rec. 1959. RCA-CD).

2.) MARTHA ARGERICH / *1941 (“Live from the Concertgebouw 1978 & 1979”, 6:03, rec. 1978.  EMI-CD).

SZ: Mag sein, dass 1 nicht Rubinstein ist, aber es ist genau diese Zeit und so gespielt, wie man diese Musik in dieser Zeit machte. Es ist sehr schwer, die Interpretation in Worte zu fassen, denn es ist so wie es ist, einfach wahr, und es muss doch Rubinstein sein, denn ich habe mindestens drei falsche Töne gehört, aber es lebt und ist wunderbar und lebendig. Ich empfehle meinen Schülern immer, seine Tagebücher zu lesen, wenn sie Musiker werden wollen.  2 ist total anders, andere Welten, verrückt, junge Wilde,. JA: … sind vielleicht doch nicht mehr so ganz jung, aber anstrengend zu hören – im positiven Sinne… SZ: … es ist Wahnsinn. Erstens hätte ich nie gedacht, dass 2 1978 eingespielt worden ist. Diesen Mut, so zu spielen, mit so viel Kraft und Temperament, das ist unheimlich. Es ist ein total anderer Chopin, aber nicht in erster Linie, “ich spiele jetzt anders Chopin“, sondern vielmehr, „ich bin als Pianist da“, bin jemand, der zeigen will, schaut mal, so kann man es auch machen, sehr provokativ, sehr voll, ich pfeife auf alles - das kann eigentlich nur eine Frau machen, kann nur die Argerich sein, denn wir haben ein Problem, wir möchten zeigen, dass wir viel mehr Kraft haben, als die Männer und wir kämpfen immer noch um uns in diesem Milieu und sie besonders. Es ist lustig, dass du das jetzt bringst, denn das Problem beschäftigt mich auch, das Frausein in dieser Männergesellschaft, weil ich auch immer unter Männern bin - tolle Aufnahme.

ALBAN BERG (1885-1935):

VIOLIN CONCERTO 1. SATZ ANDANTE / 1935 („“Violin Concertos - Berg, Janáček, Hartmann”, rec. 1991. Philharmonia Orchestra, Heinz Holliger, Thomas Zehetmair, violin. Teldec-CD).

SZ: (Nach den ersten Tönen): Ah, Alban Berg. Eine Aufnahme hat mich sehr geprägt, die mit Gidon Kremer und dem Sinfonieorchster des Bayerischen Rundfunks, weil sie sehr nüchtern ist, sehr klar. - Hier ist es das totale Gegenteil, das Orchester ist zu voll, nimmt zuviel Raum ein, ein ganz Alter oder ein Junger, ein guter Geiger, toll gespielt, aber zuviel Vibrato und zu süss. Aber grandiose Musik, so schön.  

Sylwia Zytynska, herzlichen Dank für Deinen Besuch in Nürensdorf.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 1/2011
Fotos © Johannes Anders 

 

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