Johannes Anders
Musik - Journalist

THOMAS MEYER

Text von Johannes Anders


Thomas Meyer 1 Irgendwann in der Pubertät waren Beethoven und Brahms, Mussorgski und Rachmaninow nicht mehr genug, und während seine Kollegen sich für die Beatles und Jimi Hendrix begeisterten, begann Thomas Meyer sich mit Debussy und Strawinsky, mit Bartók und Messiaen zu beschäftigen, fasziniert von der Leuchtkraft ihrer Farben und der Eindringlichkeit ihrer Rhythmen. Und so ging es Schritt für Schritt und manchmal auch sehr sprungweise in die Avantgarde hinein. Kam hinzu, dass er an der Zürcher Uni neben Jus auch musikwissenschaftliche Seminare beim Komponisten Hans Ulrich Lehmann besuchte. Schnell waren die Jus-Vorlesungen abgebrochen und stattdessen solche in Musikwissenschaft bei Kurt von Fischer sowie in Literaturkritik bei Werner Weber belegt. Glücklicherweise verbanden sich Musik und Kritik sehr schnell, sodass daraus ein Broterwerb entstand. Beim Tages-Anzeiger Zürich wurde er bald Musikjournalist, später auch bei Radio DRS 2, immer im zentralen Bereich der Neuen Musik, aber mit Interesse durch die ganze Klassik bis hin zum Mittelalter zurück und sehr schnell auch in den offenen Feldern hin zu Improvisation, Jazz, Installation, Aktion, Film, Multimedia. Man sollte sich den Blick möglichst nicht verbauen lassen; die Grenze ist das eigene Fassungsvermögen und die räumlich-zeitliche Unteilbarkeit der Person. Thomas Meyer lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.


OLIVIER MESSIAEN (1908-1992):

TURANGALÎLA SYMPHONIE/1948 („Hans Rosbaud Edition - Turangalîla Symphonie“, Teil VII/„Turangalîla 2“, rec. 1951, Sinfonieorchester des Südwestfunks, Leitung Hans Rosbaud, Yvonne Loriod, Klavier, Ginette Martenot, Ondes Martenot. WERGO-CD).

TM: Ich kenne das Stück sehr gut. Diese Musik ist für mich nach wie vor relativ wichtig, denn Messiaen war für mich ein Einstieg in die Neue Musik. Bis dahin kannte ich Strawinsky, ein bisschen Bartok, Schönberg ... Heute frage ich mich, was mich damals an dieser Musik so fasziniert hat: Es ist einerseits, weil es sehr rhythmische Musik ist, sehr wild, auch sehr farbig, und andererseits, weil sie etwa mit den Vogelstimmen aber auch sonst, vielfältige Assoziationen auslöst. Es ist Farbe da, Bewegung - Musik, die mich immer noch sofort reinnimmt - sollte eigentlich auch Jazzinteressierte reinziehen ... 


LENNIE TRISTANO (1919-1978):

C MINOR COMPLEX („The New Tristano“, rec.1962, L.T., Piano Solo. Atlantic-LP).

Thomas meyer 2TM: Was mich hier fasziniert, sind Parallelen zur Zweistimmigkeit des a-moll-Präludiums aus dem 2. Band des Wohltemperierten Klaviers von Bach, hier aber natürlich weiter gedacht, mit unheimlich viel  rhythmischen Verdichtungen und Überlagerungen ... Wer ists? Tristano, der hat doch auch das minimal-artige Stück Mambo oder so ähnlich geschrieben ... JA: ja,Turkish Mambo“, ist auf der Trio-LP „Tristano“ aus dem Jahre 1955. TM: Spannende Musik !


KARL AMADEUS HARTMANN (1905-1063):

6. SYMPHONIE FÜR GROSSES ORCHESTER/1953 („Musica Nova“, Auszug 2. Satz - Fuge I-III, rec. 1956, RIAS Symphonie-Orchester Berlin, Leitg. Ferenc Fricsay. DGG-25cm-LP).

TM: Das Stück kenne ich, sind die letzten Ausläufer des Neo-Klassizismus, aus den frühen 50-er Jahren, bevor der Kontakt mit dem Serialismus kam, es hat Bartok-Elemente drin ... ; einer, der immer wieder Fugen reinkomponiert, war Hartmann ... JA: Er ists!, ist die 6. Symphonie ... TM: Ist sie‘s doch ..., ist ein Komponist, der wirklich sehr weit gegangen ist, der die klassische Form zwar benutzt, sie aber sehr expressiv aufgeladen hat ...


ANTHONY  BRAXTON / CHICK COREA / DAVID HOLLAND / BARRY ALTSCHUL:

NEFERTITI („Circle – Paris Concert“, Auszug, rec. 1971, Braxton, reeds, perc, Corea, p, Holland, b, Altschul, perc. ECM-LP).

TM: Irgendwie müssten wir jetzt in den siebziger Jahren angelangt sein; hier also - wie eine Art Präludium - eine lyrische, freie Intro des Pianisten, dann kommt der Rhythmus und das Ensemble, anfangs noch ganz manierlich, dann aber immer freier werdend ... Vom Klavier her und bei bestimmten Farben habe ich an Chick Corea gedacht. Der Saxophonist erinnert mich an ein Duo mit Anthony Braxton und George Lewis in Donauschingen 1976, für mich damals ein Schlüsselerlebnis, das mir zeigte. wie frei Jazz sein kann und wieviel interessanter manchmal, als sogenannte Avantgarde-Musik. JA: Du bist ja auch einer der wenigen E-Musik-Kritiker, die in Donaueschingen regelmässig nicht nur Jazzkonzerte besuchen sondern auch darüber berichten. Ich habe hier vier Kritiken dieser 1976-Musiktage vorliegen, aus dem Tagi (Konrad Rudolf Lienert), aus der BaZ (Klaus Schweizer), aus der „Welt“ und aus der „Zeit“. Keiner hat ein einziges Wort über das von Dir apostrophierte Schlüsselerlebnis-Konzert verloren, obwohl da mit Albert Mangelsdorff/Zbigniew Seifert und Michal Urbaniak/Urszula Dudziak sogar noch zwei weitere beeindruckende Duos vorgestellt wurden...


KARLHEINZ STOCKHAUSEN (*1928):

TRANS („Trans“, Auszug, rec. Donaueschinger Musiktage 1971, Sinfonie-Orchester des Südwestfunks, Leitg. Ernest Bour, Klangregie K. Stockhausen. DGG-LP).

TM: ... ist schon interessant, wie sich die Stimmung sofort vermittelt ... ; ich nehme an, es ist „Trans“ von Stockhausen. Soweit ich weiss, gabs damals bei der Uraufführung in Donaueschingen - das Orchester begann hinter einem Schleier zu spielen - einen ziemlichen Publikums-Skandal, ist aber eines der spannenden Stockhausen-Stücke, hat Räumlichkeit, Aktionismus, auch Minimalismus ..., es steckt die ganze Erfahrung der 60-er Jahre drin, doch er schafft es, sofort seine eigene Atmosphäre zu erzeugen! 


ALFRED ZIMMERLIN (*1955):

IN BEWEGUNG  (NATURE MORTE AU RIDEAU) FÜR KLAVIER MIT TONBAND UND 13 SOLOSTREICHER/1999-2000 (Auszug, rec. 14.5.2000, Radiostudio ZH. Camerata Zürich, Leitg. Räto Tschupp, Claudia Rüegg, Klavier. Privat-CD).

TM: Im ersten Moment dachte ich, diese Streicherbehandlung könnte aus dem Osten kommen und auch diese Klavierdinge, die zuerst ganz einfach und klar wirken. Dann mit der Zeit, beim näheren Reinhören, merkt man, dass hier ganz heterogene Dinge ineinander gesetzt werden, die immer haarscharf an den Erwartungshaltungen vorbeisteuern. Du hast das Gefühl, du verstehst jede Geste, wirst davon dann aber immer wieder weggelockt. Es wird sehr frei mit den Versatzstücken gespielt. Ich erinnere mich, dass Alfred mal so ein Stück komponiert hat.... Man spürt bei ihm immer wieder, dass er auch ein improvisierender Musiker ist.


WILLEM BREUKER KOLLEKTIF:

HAP SAP („Misery“, rec. 2002. BVHAAST-CD).

TM:  ... ist für mich eine Art postmoderne Musik, auf den Jazz bezogen ein bisschen post-free, eine Musik, die sagt, ach, was macht ihr denn da für Kopfmusik, machen wir doch wieder was Einfacheres, nehmen wir die ganzen trivialen Sachen, um bewusst damit zu spielen, sie auch zu verfremden, was hier unheimlich virtuos und auch sehr witzig umgesetzt wurde. Mir gefällt das sehr, bis auf die Stellen, wo es ins Billige zu kippen droht. Aber ich verstehe sehr gut, was die machen.


MORTON FELDMAN (1926-1087):

COPTIC LIGHT - 1985/86 („Anton Bruckner – Morton Feldman“, Auszug, rec. 1997, SWR Sinfonieorchester, Leitg. Michael Gielen. Hänssler Classic-CD).

TM: Ich kenne das Stück sehr gut, diese repetitiven Überlagerungen ..., eine Musik, die zuerst einmal sehr statisch wirkt, mit diesen Wiederholungen...; aber es sind verschiedene Schichten, die immer wieder gegeneinander verschoben werden. Und es entwickelt sich doch etwas, es kommen neue Elemente rein ..., für Feldman ist das eigentlich zu bewegt, oder ist er‘s doch? Ein wunderbares Stück, mit den Farben usw.


WAYNE SHORTER (*1933): ORBITS („alegria“, rec. 2002, W. Shorter, ts, Brad Mehldau, p, J. Patitucci, b, B. Blade, dr. Verve-CD).

TM: In diesem Stück gibt’s eine Diskrepanz: da ist diese fast klassizistische, floskelhafte Einleitung, die sehr arrangiert wirkt, und nachher kommt das Solistische, in das auch geräuschhafte Elemente reinkommen - ein spannender Gegensatz, wobei ich schade finde, dass  nach diesem ersten, gut gemachten Teil etwas passiert, das sehr gekonnt wirkt, mich aber auf die Dauer kalt lässt, mir zuwenig nahe geht...


SAVINA YANNATOU & PRIMAVERA EN SALONICO:

HEY HET / TRAD. FROM LEBANON („Terra Nostra“, rec. live 2001 Athens, S. Yannatou + Lamia Bedioui, voice, Ensemble Primavera. ECM-CD).

TM: X... das ist unheimlich reich, auch von der Sprachbehandlung und Phrasierung her; die haben ein unheimliches Repertoire an Verzierungen, an Können, die Stimme einzusetzen ...; Manchmal wäre man froh, die klassisch-avantgardistischen Sängerinnen könnten soviel mit der Stimme machen...


HELMUT LACHENMANN (*1935):

STREICHQUARTET NR. 3 „GRIDO“ - 2001/2 (Lucerne Festival Sommer 2002 „Verführung“, Auszug, rec. 4.9.02, Lukas-Kirche LU, Arditti-Quartet. SR DRS2 25.9.02).

TM: ... eine Musik, die keine Ruhe hat, mit ständigen Bewegungen, Gegenbewegungen, als würde etwas ansetzen und dann plötzlich ins Nichts verpuffen, wie aufleuchtende Punkte, sehr diferenziert, mit unheimlich vielen Dingen drin, ein Komponist, der jeden Klang in sich betrachtet, ohne Tradition. Wer ists? - bei Lachenmann gibt’s eigentlich sonst noch mehr Geräuschhaftes ...


LUKAS NIGGLI / VOCATIV ZÜRICH / TURIVOX:

SCHWERE ZUNGN (Konzert „Drum’n Bach“, Teil 2/5, Auszug, rec. 2.2.2003, Kirche St. Peter Zürich, Lukas Niggli, Komposition und Schlagzeug, Thomas Küng, Text, Vokalensembles Turivox und Vocativ, Leitg. Adrian Schmid und Heini Roth. Privat-CD).

TM: Eine ganz spannende Idee, das Schlagzeug mit einem Chor zu kombinieren, eine Verbindung zu schaffen. Am Anfang finde ich es musikalisch interessanter als nachher, wo eine gewisse Gleichförmigkeit entsteht und ich weiss, wo‘s durchgeht. Der interessantere Teil ist das Schlagzeug. Das Stück scheint in einem grösseren Zusammenhang zu stehen... JA: ...stimmt, vorher und nachher standen Doppelchormotetten von Bach auf dem Programm, was Kontrast und Spannung erhöhte.


JEAN-MICHEL PILC TRIO:

HONEYSUCKLE ROSE („Together – Live at Sweet Basil“, rec. 2000. A-Records-CD).

TM: Unterhaltsam, witzig ..., ein alter Hit, der aber so gekonnt aufgebrochen wird, dass man die Ohren wieder aufmacht!. Gewisse reingeschleuderte, kurze, dissonante Elemente erinnern mich an Monk...


HARRISON BIRTWISTLE (*1934):

EARTH DANCES FÜR ORCHESTER – 1985/2000 (Europäischer Musikmonat Basel 2001, Auszug, rec. 1.11.01, Ensemble Modern Orchester, Leitg. Pierre Boulez. SR DRS2 live).

TM: ... eine sehr expressive Musik, mit fast pathetischem Gestus, auch sehr massiv in den Klängen, ständig durchbrochen, durcheinandergehend, eine extreme Ausdrucksmusik. Es hat etwas sehr Wildes, der Komponist ist immer unter Hochdruck ...


MARKUS EICHENBERGER’S DOMINO:

PART III („Concepts for Orchestra“, Auszug, rec. 2001 Studio 2 DRS ZH. Dorothea Schürch + Marianne Schuppe, voice, 11-köpf. CH-Orchester. EMANEM-CD).

TM: ... es heimelet einen grad ein bisschen an, wenn man Doro kennt ... Die freie Schweizer Improvisationsmusik, die ich immer wieder gehört habe, ist auch hier unheimlich reich, hat eine lässige Spannung, mit vielen kleinen Elementen übereinander, die auch wieder Schichtungen sind, die von den einzelnen Instrumenten erzeugt werden ... Und diese Spannung zwischen dem hochdeutschen und dem schweizerdeutschen Ton ...; auch auf diesen Sprachebenen passiert sehr viel. Wenn man das Hochdeutsche hört, denkt man einen Moment, jetzt wird’s intellektuell, aber dann ist lustig, wie das schweizerdeutsch angehauchte Hochdeutsch das aufbricht ...,auch das irgendwie sehr witzig ...


GÜNTER MÜLLER:

NR. 2 („eight landscapes“, Auszug, rec. 2001/2, Günter Müller, selected percussion, mds, ipod, electronics, processing. For4Ears records-CD).

TM: Hier hast du das Gefühl, Du gehst durch Räume hindurch; am Anfang ein Raum in einer bestimmten Farbe, dann geht’s weiter in den nächsten ..., würde das am liebsten in den Räumen einer Fabrik hören, wo du durch die verschiedenen Räume und Klänge gehen kannst. Mir gefällt das sehr, ich habe solche Sachen gern. Was mir auch gefällt, sind die verschiedenen Charaktere der Klänge, die nebeneinander stehen... Es hat was „Installatives“. 


SIMON NABATOV (*1959):

WHICH WAY UP („perpetuum immobile“, rec. 2002, S. Nabatov, Solo Piano. LEO-CD).

TM: Das stellt vieles in den Schatten, was wir heute gehört haben, auch von Jazz her, so unheimlich souverän, mit grandiosem Instant Composing, mit Jazzhintergrund ..., einer, der all die freien Dinge auch mitgekriegt hat, der jederzeit springen kann, der formale Punkte setzen kann, dann wieder zum Anfang zurückkehrt, stets das Ganze im Auge hat, auch wenn er wieder ganz woanders ist - so umfassend, und trotzdem hast du nie das Gefühl, er spiele Sachen, die er schon x-fach gemacht hat – ganz toll, absolut phänomenal !


GALINA USTVOLSKAYA (*1919):

DIES IRAE FÜR 8 KONTRABÄSSE, SCHLAGZEUG UND KLAVIER – 1972/73 (Lucerne Festival, Ostern  2002, rec. 23.3.2002,  Collegium Novum Zürich, Leitg. Kasper de Roo, Jacqueline Ott, Schlagzeug. SR DRS 2, 28.3.2002).

TM: ... Ustvolskaya ..., ist keine Musik, die einem was zulieb tun will, sehr schwer verdaulich, und man kann sie auch nicht oft hören... Ich finde sie aber mit dieser fast sturen Beharrlichkeit, der bis ins Extreme getriebenen Kraft und Energie, einzigartig ..., mit diesen wuchtigen Schlägen auf den Holzblock ...


IANNIS XENAKIS (1922-2001):

IOOLKOS / 1996 („orchestral works and chamber music“, rec. Donaueschinger Musiktage 1996, SWF Symphony Orchestra, Leitg. Kwamé Ryan. col legno-CD).

TM: ... eine ähnlich unbedingte Musik wie die von Ustvolskaya, sehr massig, fast brutal, mit den übereinander und gegeneinander gesetzten Blöcken, die dann mit Glissandi in Bewegung gebracht werden..., ein typisches Merkmal von Xenakis...


Danke Thomas fürs Mitmachen.




 © JAZZ 'N' MORE Nr.2/2003
Fotos: © Peewee Windmüller



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