Johannes Anders
Musik - Journalist

UELI BERNAYS

Text von Johannes Anders

Ueli Bernays 1Ueli Bernays, geboren 1964, studierte Geschichte, Russisch und Philosophie in Zürich, Paris und Moskau. Später arbeitete er als Jazzbassist, Russischlehrer und Journalist. 2000 erschien sein Roman «August» (2001 mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet). Seit 1999 ist er auf der Redaktion der "Neuen Zürcher Zeitung" zuständig für die Themen Pop und  Jazz. Bernays lebt mit seiner Lebenspartnerin und seinen zwei Söhnen in Zürich.


FRANK GRATKOWSKI PROJECT:

DIV. AUSZÜGE ("Loft Exile V", rec.2003, F. Gratkowski, as, cl, Tobias Delius, ts, cl, Herb Robertson, tp, Walter Wierbos, tb, Dieter Manderscheid, Wilbert De-Joode, b, Gerry Hemingway, Michael Vatcher, dr. Leo-2CD).

UB: Es ist Musik, die ich früher mehr gehört habe, Musik, die man eigentlich lieber im Konzert hört als ab CD. Sie erinnert mich an verschiedenste Dinge, an die Freejazz-Tradition, auch an verschiedene Freejazz-Zentren zwischen Chicago und Ostdeutschland.  Aber man merkt, dass die Leute viel jünger sind; sie können die Freejazz-Tradition zitieren - Sounds, Signaturen, Klischees -  und sie machen viele Fehler nicht mehr, die damals gemacht wurden: sie hören stark aufeinander, sie können warten und die Rhythm Section agiert oft wie nach einer Textur. Und dadurch geben sie auch den Bläsern die Möglichkeit, sich immer wieder einzubringen und die gehen glücklicherweise auch wieder raus; das machen sie sehr gut und ist sehr schön. Was mir auch gefällt, ist die Ayler'sche Power. In der Schweiz gab es ähnliches, z.B. BBFC, die auch diese Kraft entwickeln konnten. Früher hatte man den Eindruck von Rebellion, heute wirkt das wie eine Art Klassik des Freejazz.


WASILEWSKI / KURKIEWICZ / MISKIEWICZ:

FREE-BOP ("Trio", rec. 2004, M. Wasilewski, p, S. Kurkiewicz, b, M. Miskiewicz, dr. ECM-CD).

UB: Diese Pianotrio-Musik erinnert mich an sehr viel und irgendwie hat man das Gefühl, man kennt das. Die Offenheit und der Umgang mit den Motiven erinnern an Jarrett, die Sounds jedoch nicht. Spielweise und Offenheit gefallen mir sehr gut, auch wie die Farben der Instrumente zusammenwachsen und die Bälle hin und her gehen. In diesem Genre ist es extrem schwierig, zu überraschen. 


GÜNTER MÜLLER / JASON KAHN:

NINTH BLINK ("Blinks", rec. 2003, G. Müller, Ipod, MD, sel. perc, electr., J. Kahn, powerbook. For4Ears-CD).

UB: Ich finde diese Minimal-Ästhetik eigentlich etwas sehr Spannendes, auch in theoretischer Hinsicht, zum Beispiel, wie weit kann man Musik reduzieren, auf wie wenig Informationen …; Strukturen werden dabei sehr durchsichtig, gleichzeitig zeigen gute Beispiele wie dieses hier, dass das durchaus sinnlich sehr stark wirken kann, ähnlich den Erfahrungen, die man mit Kunst, mit Malerei machen kann, beispielsweise mit einem Rothko. Minimalismus impliziert natürlich auch, wenn man mit wenig arbeitet, dass das dann irgendwann mal ausgereizt ist. 


TORUN ERIKSEN:

FEVER SKIN ("Glittercard", rec. 2002, T. Eriksen, voc, Bugge Wesseltoft, perc, & Ens. Jazzland-CD).

UB: Sehr schön, hat eine interessante Sprache, erinnert mich von den Ingredienzen her an das, was heute in Sachen Jazz-Pop-Verschnitt so angesagt ist. JA: … ist eine Entdeckung von Bugge Wesseltoft, der sie als eines der grössten Gesangstalente Norwegens der letzten Jahre bezeichnet haben soll und auf seinem Label Jazzland auch diese Debüt-CD produzierte. Sie war ja beim "jazznojazz"-Festival angesagt.


THE MANHATTAN PROJECT:

DANIA ("The Manhattan Project", rec. 1989, W. Shorter, ss, M. Petrucciani, p, Stanley Clarke, b, Lenny White, dr, Gil Goldstein, Pete Levin, keyboards. Blue Note-CD ).

UB: Ich finds ziemlich grässlich, weiss nicht genau, obs an der Aufnahme oder an der Musik liegt. Von der Aufnahme her wirkts massig und der Einsatz der Synthesizer ist einfach grauenhaft. Wenn man ein neueres Instrument in eine ältere Musik integriert, sollte man sich stilistisch oder ästhetisch etwas überlegen, irgendwie versuchen, die Musik weiter zu entwickeln. Hier wirkts wie eine sportive Art, die Tradition aufzubereiten. Es sind sicher gute Musiker; sie spielen aber eine Musik, die mir so nicht gefällt. Und auch die Rhythm Section gefällt mir nicht. Wer ist denn das? Shorter …, ich habs fast vermutet, dass das Shorter sein könnte; gerade er hat ja gute Sachen mit Synthi gemacht und er war mit Weather Report einer der wenigen, die es geschafft haben, Elektronik einzubeziehen. Heute ist er ja einer der ästhetischen Wegweiser. Petrucciani kenne ich nicht so gut und ich bin auch kein Fan von ihm. 


RHYTHM IS IT:

LE SACRE DU PRINTEMPS ("Rhythm is it", Film-Soundtrack, rec. 2003/04, , La Sacrifice/Auszug, Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle. BPH-CD).

UB: … ist auch nicht mehr ganz neu, klingt irgendwie russisch …, ist es "Sacre …"? War ja mal ein Skandalstück; heute wirkt auch das schon klassisch, ist aber immer noch voller Power.  


ARILD ANDERSEN GROUP:

WHISPERS, DIVINE COMMAND UND WEITERE AUSZÜGE ("Electra", rec. 2002/3, A. Andersen, b, dr-progr, comp, & Ens. ECM-CD).

UB: Auch wenn sich die verschiedenen Beispiele etwas unterscheiden, frage ich mich doch, auch wenn es gute Musiker sind, warum das so gekünstelt wirkt, nicht in sich lebt. Beim ersten Beispiel macht der Trompeter etwas Geräusche und Stimmliches und der Bassist soll dann ein Solo machen; er macht dann etwas Traditionelles zwischen Postbop-Soli und Freejazz, aber es gibt überhaupt keine Spannung zwischen den beiden Ebenen, es wächst nichts zusammen, es geht nirgendwo hin, kommt von nirgendwo her, ist etwas Beliebiges, was man halt so macht, weil man die Instrumente spielen kann. Und was dann nachher kommt, bestätigt das irgendwie, weil sie halt irgend etwas machen, was man gerade so machen kann, etwas Folk rein, etwas Loops, aber es gibt für mich einfach kein klares Statement. Wenn man so will, kann man sagen, das ist jetzt irgendwie Postmoderne, aber das hat mit der armen Postmoderne nichts zutun, wenn die Leute nicht wirklich was durchgestalten. 


BRÖTZMANN / PARKER / DRAKE:

HALFHEARTED BEAST ("Never too late but always too early – dedicated to Peter Kowald", rec. 2001, P. Brötzmann, ts, a-cl, taragot, William Parker, b, Hamid Drake, dr. Eremite/FMP-2CD).

UB: Ich habe das Gefühl, ich kenne den Saxophonisten … Schon allein der Sound an sich ist witzig und ich finds gut, dass er bei den ganz simplen Phrasen und Tönen verharrt und so wirds auch wirklich zu einem Statement und dazu passt auch, wie die Rhythm Section eher behäbig und langsam kommt …, und auch dieser Swing ist sehr behäbig, fast wie ein Marsch – das passt zusammen, ist etwas zwischen Marschparodie und Freejazz-Persiflage. Ob man dabei mehr als fünfzehn Minuten zuhören will, bleibe dahingestellt. Jedenfalls ists ein gelungenes musikalisches Statement. 


CHIARA CIVELLO:

PAROLE INCERTE ("Last Quarter Moon", rec. 2004, C. Civello, voc, & Sextet. Verve Forecast-CD).

UB: Früher habe ich sehr viel Jazzsängerinnen gehört und war lange Zeit ein grosser Fan von Billie Holiday, natürlich auch von Sarah Vaughan und Ella Fitzgerald. Inzwischen hat sich mein Interesse gewandelt. Sie hier finde ich sehr schön, mit der Zeit aber etwas gar schön, was mich dann doch eher langweilt. Unterdessen gibt’s eine ganze Flut derartiger Sängerinnen zwischen Pop und Jazz, - Rebekka Bakken, Viktoria Tolstoy … Norah Jones finde ich eigentlich schon ok., Diana Krall unterdessen auch sehr gut. Spannender ist für mich jedoch der ganze Pop-, Rock-, HipHop- und R & B-Bereich, wo es viel freier zugeht, auch mit der ganzen Elektronik-Spielerei. Dagegen wirkt die ganze Ästhetik der Popjazz-Sängerinnen viel standardisierter.


MAX ROACH – CLIFFORD BROWN QUINTET:

I GET A KICK OUT OF YOU ("California Concerts 1954", M. Roach, dr, C. Brown, tp, Harold Land, ts, Richie Powell, p, George Morrow, b. Freshsound-CD).

UB: Jetzt wirds dann doch noch ein Blindfold-Test … Auf jeden Falls ists ein Klassiker und ich kenns irgendwie, ist aber nicht Gillespie … (Nach Info:) Von den beiden habe ich glaube ich auch eine LP zuhause. Wie auch immer, man soll die Klassiker ehren, mehr gibts dazu eigentlich nicht zu sagen.


FRED FRITH / ARDITTI STRING QUARTET:

FELL ("Eleventh Hour", rec. 2004, Arditti String Quartet, F. Frith, el-g, comp, Uwe Dierksen, tb, William Winant, e-g. Winter&Winter-2CD).

UB: Ich weiss nicht, wer das ist, es gefällt mir aber sehr, etwas Ives-mässig … (Nach Info:) Den Fred Frith kenne ich vor allem von seinen Soloauftritten mit alle den Geräusch-, Reissnägel- und Klangexpeditionen. Das hier ist sehr ruhig, aber spannend, scheint trotz der im Raum stehenden Klänge irgendwo hinzugehen …


E.S.T / ESBJÖRN SVENSSON TRIO:

WHAT THOUGH THE WAY MAY BE LONG ("Viaticum", rec. 2004, E. SWvensson, p, Dan Berglund, b, Magnus Öström, dr. ACT-CD).

UB: Wenn das für das Trio charakteristisch ist, erinnert mich das an E.S.T. – schön gemacht, schön gespielt, ist aber eigentlich der Weg, der mich beim Pianotrio am wenigsten interessiert. Gerade für Bassisten bedeutet ja, und das ist das Spannende, das moderne Pianotriospiel eine Befreiung und Aufwertung. Hier jedoch werden der Bass und auch das Schlagzeug wieder in die alte Funktion zurückgedängt und für Interplay gibts eigentlich keinen Platz mehr. Es ist wie beim alten Ahmad Jamal Trio, nur dass das noch etwas mehr groovt. Früher war das beim Esbjörn Svensson noch anders.


DIETER AMMNANN:

VIOLATION ("The Freedom Of Speech", rec. 2002, Auszug, Ensemble für Neue Musik Zürich, Jürg Henneberger, cond. hat[now]ART-CD).

UB: Gefällt mir sehr, ein spannendes Stück, erzählerisch, fasslich … JA: Den bekannten Aargauer Komponisten, Trompeter und Keyboarder Dieter Ammann kennst Du ja sicher … UB: Ich sass mal zusammen mit ihm in einer Jury … JA:  Kürzlich wurde er im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung "20 Jahre Ensemble für Neue Musik Zürich" speziell vorgestellt, verbunden mit einer Plattentaufe für diese CD. Früher war er eher im Bereich Improvisierte Musik und Jazz bekannt, spielte z.B. in Willisau oder in Gruppen wie etwa "Donkey Kongs Multi Scream". Beim Lucerne Festival Sommer 2002 wurde von der stark vergrösserten Basel Sinfonietta unter Peter Rundel seine Komposition "Core" (mit Bezügen zur Musik von Koch/Schütz/Studer) uraufgeführt. Auch heute ist er jedoch nicht nur als Komponist sondern auch als multiinstrumentaler Improvisator aktiv, etwa auf einer CD mit Felix Knüsel, in Konzerten mit den funkigen Hip Twins oder zusammen mit Fredi Studer und Bruno Amstad in der Gruppe "Joyful Noise 17" am 20. Mai in der Luzerner Jazzkantine.


Ueli, herzlichen Dank für Deinen Besuch.




 ©JAZZ 'N' MORE Nr. 3/2005
Fotos: © Peewee Windmüller



zurück