Johannes Anders
Musik - Journalist

CHRISTOPH GALLIO

Text und Fotos von Johannes Anders

Christoph GallioChristoph Gallio, geboren 1957, lebt in Zürich. Autodidakt. Studierte Saxophon bei Iwan Roth am Konservatorium Basel. Erhielt 1987 den Aktionskunstpreis der Stadt Basel. Studierte Musik bei Steve Lacy in Paris. Spielt seit 1977 u.a. mit Irene Schweizer, Irene Aebi, Urs Voerkel, Günter Müller, Stephan Wittwer, Norbert Möslang, Peter Kowald, Alfred Zimmerlin, Matthew Ostrowski, Werner Lüdi, Urs Blöchlinger, Fred Frith, Phil Minton, John Russel, Lindsay L. Cooper, Uchihashi Kazuhisa, Kazutoki Umezu, William Parker, Rashied Ali. Solos und Performances mit den TänzerInnen Christine Brodbeck, Tomiko Takai, und Franz Frautschi. Zusammenarbeit u.a. mit dem Künstler Beat Streuli und dem Schriftsteller Kurt Aebli. Seit 1986 Kompositionsstudien. Konzerte im In- und Ausland. Christoph Gallio ist auf insgesamt 13 Platten vertreten, darunter 11 unter eigenem Namen, wie etwa Christoph Gallio "MÖSIÖBLÖ à Robert Filliou" mit Sara Maurer, Marino Pliakas, Thomas Eckert, Peter Schärli (2001/percaso production 19) oder als Mitwirkender auf CDs wie Ensemble Uncontrolled "links" mit Eduard Akulin, Mart Soo, Kalle Laar, Takashi Kazamaki und Paul Hoskins (2001/SLAM 507). Die wichtigste Plattform ist sein 1986 zusammen mit der Dänischen Designerin Anne Hoffmann gegründetes Label percaso production, das inzwischen 19 Veröffentlichungen umfasst. Hier brachte er nicht nur Produktionen mit eigenen Gruppen heraus, zum Beispiel DAY & TAXI "about" mit Dominique Girod und Dieter Ulrich (1998, percaso production 17), sondern auch Editionen etwa von Brian Agro mit Pianist Thomas Bächli. Die umfangreiche Liste seiner Kompositionen enthält Werke wie "à Gertrude Stein" (1993) für Mezzosopran od. Bariton, Sopran/Altsaxophon, Kontrabass und Schlagzeug, Text: Gertrude Stein, "To Blinky" (1995) für Bassklarinette, akustische und elektrische Gitarre, Klavier, Perkussion, Mezzosopran und 4 verstärkte Kassettengeräte mit präparierten Tonträgern, 2 Texte: Klaudia Schifferle, "H.B., Derek & Yves" (1996) für Tenor solo, 7 verstärkte Kassettengeräte mit präparierten Tonträgern und Umgebungsgeräusche in Stereo, Text: Derek Jarman.


CHARLIE PARKER QUINTET:

KOKO („Bird / The Savoy Recordings“, rec. 1945. Charlie Parker, as, Miles Davis, tp, Dizzy Gillespie, p, Curley Russel, b, Max Roach, dr. EMI Electrola-2LP).

CG: Klar, dass das der Parker war, der Oberchef..., phantastisch, sehr lebendig, existentiell, hat einen Wahnsinnsdruck, ist frischer, als so manches, was man heutzutage hört; an den Drums sicher Max Roach..., -  starke Sache!.


ERIC DOLPHY & RON CARTER:

DOLPHY-N („Other Aspects“, rec. 1960. Eric Dolphy, as, Ron Carter, b. Blue Note-LP).

CG: Wahnsinnsschön, extrem, ist aber nicht der Jimmy Lyons..(?)., Die schnellen Läufe, sehr präzise gespielt, sehr transparent, gestochen scharf. Der Altsaxophonist weiss genau, wo er durch will, wo er landen will..., diese Phrasen..., toll, wunderbar!


GUNTHER SCHULLER:

ABSTRACTIONS

1.) Ornette Coleman & Ensemble ("Jazz Abstractions", rec. 1960. Ornette Coleman, as, Jim Hall, g, Scott LaFaro, b, Alvin Brehm, b, Sticks Evans, dr, Comtemporary String Quartet. Atlantic-LP).

2.) Eric Dolphy & Ensemble ("Vintage Dolphy", rec. 1963. Eric Dolphy, as, Richard Davis, Barre Phillips, b, Jim Hall, g, Sticks Evans, dr, & String Quartet. Enja-LP).

CG: Spannende Sache; die erste Aufnahme ist wahrscheinlich die ältere und vermutlich aus den sechziger Jahre, aber klar, dass das der Ornette Coleman ist. Bei der zweiten dachte ich zuerst, es könnte der Braxton sein, als er noch geübt hat, aber dann war es klar, dass es wieder der Dolphy ist. Die Streicher scheinen ziemlich viel Improvisationserfahrung zu haben. Oft ist es ja so, dass die ganze Energie zusamenbricht, wenn klassische Streicher improvisieren sollen. Hier merkt man überhaupt nichts, der Level bleibt! Die zweite Aufnahme empfinde ich als durchsichtiger aufgenommen und der Drummer groovt mehr. Und wie der Dolphy einsteigt..., als ob er es kaum erwarten kann, - virtuoser geht’s nicht mehr, wahnsinnig, technisch super, was der hier veranstaltet, allerdings mit der Tendenz, mit der Zeit langweilig zu werden. Aber eine sehr schöne Komposition. 


JOHN COLTRANE GROUP:

MY FAVORITE THINGS ("The Olatunji Concerts: The Last Live Recordings", rec. 1967. John Coltrane, ss, Pharoah Sanders, ts, Alice Coltrane, p, Jimmy Garrison, b, Rashied Ali, dr, & percussion. Impulse-Verve-CD).

CG: Extrem, wie der Coltrane hier spielt, existenziell... JA: Drei Monate vor seinem Tod aufgenommen... CG:...eine Kombination von Schmerz, Verzweiflung, Spiritualität, wie ein Akt gewaltsamer Befreiung...; stark auch der Schlagzeuger, wahrscheinlich Rashied Ali..., wie der hier mitgeht, kooperiert...!


STEVE LACY:

DUCK ("Clinkers", rec. 1977 Basel, „Zer alte Schmitte“. Steve Lacy, ss. HatHut-„F“-LP).

Christoph GallioCG: (Lacht...) alles klar, der Lacy! Heisst das Stück nicht „Duck“ oder so ähnlich?; das war in Basel und ich war bei diesem Konzert dabei. Lacy war ja mein Lehrer. J.A.: Das Besondere an ihm...? CG: Das Intellektuelle, sein Nachdenken über Musik, das Überlegen, was Musik überhaupt soll, was wir mit ihr machen sollten, seine Auseinandersetzung mit dem Wort, seine Liebe zu Lyrik, Literatur, Kunst, sein breites Interessen- und Ausdrucksspektrum, sein sich Vertiefen, sich Konzentrieren können auf sein Instrument, auf die eigene Musik, seine Kompromisslosigkeit, ohne Rücksicht auf Erfolg und Verkäuflichkeit...; das ist das, was mich interessiert.


COE, OXLEY & CO.:

A TIME THERE WAS ("Nutty", rec. 1983 at Jazz Festival Willisau. Tony Coe, ss, Tony Oxley, dr, Chris Laurence, b. hatArt-CD).

CG: Spannend..., aber keine Ahnung, wer das sein könnte, sind aber sicher Europäer. Der Schlagzeuger gefällt mir sehr, sehr lyrische Musik, der Saxophonist für meinen Geschmack hier allerdings mit etwas zuviel Schnörkeln und fast eine Spur zu romantisch, aber sehr schöner Ton, saubere Technik, schöner Aufbau...(Nach Bekanntgabe:) Tony Coe ist einer meiner Lieblinge.


KARL AMADEUS HARTMANN:

CONCERTO FUNEBRE, 3. SATZ, 1939 ("Funèbre", rec. 1999. Münchner Kammerorchester, Leitg. Christoph Poppen, Isabelle Faust, Solo-Violine. ECM-CD).

CG: Existentiell! Ich bin sprachlos, sehr stark, eine schöne Überleitung von der vorangegangenen Musik, phantastischer Solist, wahnsinnig schön, und die grosse Präsenz des Melodischen, was mir als Melodiefan sowieso gefällt...


26C4 KOMBINATION:

SPACE FOOD UNION ("WIM-KOPROD-Sampler", rec. 1986. Andres Bosshard, cass. mach., Markus Eichenberger, cl, Peter K. Frey, tb, Christoph Gallio, ss, Jürg Gasser, ts, Fredi Lüscher, p, Michel Seigner, g, instant poetry, Barbara Sturzenegger, p, Jacques Widmer, dr, Jürg Wildberger, b, Alfred Zimmerlin, cello, electronics. UNIT-LP).

CG: (Lacht, lacht, lacht...!) Das kenne ich, ist aber schon lange her, ist „Space Food Union“, habe es seit dem nicht mehr gehört, und es erstaunt mich, wie frisch das noch ist; nach wie vor irrsinig, diese totale Power...; habe zuerst mich, dann auch Alfred Zimmerlin, Peter K. Frey an der Posaune und Michel Seigners Stimme gehört und so das Stück wiedererkannt.


ANTHONY BRAXTON:

COMPOSITION 101 ("Compositions 99, 101, 107 & 139", rec. 1988. Braxton, ss, Marianne Schroeder, p. hatART-CD).

CG: Typische westliche Neue-Musik-Ästhetik, vermutlich mit viel freier Improvisation; ist wahrscheinlich der Braxton. Hält soundmässig jedoch keinem Vergleich mit Lacy stand, fällt da ganz deutlich ab. Aber bewundernswert, wie er intellektuell denkt und wie er wie Lacy seine Sachen kompromisslos durchzieht. Braxtons Glanzzeit waren für mich die Jahre, in denen sein hervorragende ECM-Album mit Chick Corea, Dave Holland und Barry Altschul entstand (JA: „Circle“, rec. 1971, ECM 1018/19).


EVAN PARKER / BARRY GUY / LAWRENCE CASSERLEY:

FRONDESCENCE ("Dividuality", rec. 1997. Evan Parker, ss, Barry Guy, b, Lawrence Casserley, live electronics. Maya Records-CD).

CG: Schön, gefällt mir sehr, ist der Evan Parker, und der Bassist wird Barry Guy sein. Sehr schön die elektronischen Sounds. Erstaunlich bei Evan Parker: Er macht scheinbar „hundert Jahre“ immer das Gleiche, schafft es, immer wieder seine „Klassiker“ zu bringen, und doch ist es immer wieder spannend und frisch und wird nie langweilig.


OLGA NEUWIRTH:

VAMPYROTHEONE, 1995 ("Olga Neuwirth", rec. 2001. Klangforum Wien, Leitg. Sylvain Cambreling. Kairos-CD).

CG: Ich glaube, ich kenne das..., waren wir nicht kürzlich im gleichen Konzert? Vermutlich ist es die Olga Neuwirth... Es läuft sehr viel und es wird einem nie langweilig...,total spannend, sehr virtuos gemacht, sehr vielschichtig. Musik muss mich packen, egal welche das ist, und diese hier packt mich!


HERBIE HANCOCK/WAYNE SHORTER:

AUNG SAN SUU KYI ("1 + 1", rec. ca. 1996. Herbie Hancock, p, Wayne Shorter, ss. Verve-CD).

CG: Schönes Thema, sehr stimmig, unprätentiös, schöne Improvisation und Verdichtung, nicht geschwätzig, schöner Sound, gefällt mit sehr, aber keine Ahnung, wer das ist.


MARC COPLAND - DAVE LIEBMAN QUARTET:

CRY WANT, LUNAR ("Lunar", rec. 2001. Marc Copland, p, Dave Liebman, ss, Mike McGuirk, b, Tony Martucci, dr. hatOLOGY-CD).

CG: Phantastische Rhythmusgruppe, extrem gut, wahnsinnig..., und Dave Liebman... - mit Richie Beirach, nein...? Ich habe mich eigentlich nie sehr für Liebman interessiert, ausser dem, was er bei Miles gemacht hat. Er war mir zu virtuos, zu gewollt harmonisch komplex, wie bei einem Wettbewerb, wo es darum geht, komplexer, noch komplexer... Aber diese Aufnahmen hier finde ich ganz toll, die Vielschichtigkeit, auch vom Rhythmischen her, und doch gibt’s eine Einheit. Es ist das In und Out, das mich sehr interessiert und was hier stattfindet, sehr musikalisch - nicht musikantisch - sehr intelligente, feinfühlige Musik; und sie fliesst und fliesst und zieht mich rein, lässt mich nicht kühl... Irrsinnig, schön! Und dieser wunderbare Pianist... Die CD  muss ich mir unbedingt besorgen! 


STEVE COLEMAN AND FIVE ELEMENTS:

WHEEL OF NATURE ("Resistance Is Futile", rec. 2001. Steve Coleman, as, & Group. Label Bleu-2CD).

CG: Das ist Steve Coleman! Sehr spannend, was die rhythmisch machen, gefällt mir sehr! Geht hier teilweise in einen Voodoo-ähnlichen Bereich, mit einem Touch Minimal Music. Sehr glaubhaft, was die machen. Man bekommt das Gefühl, dass sie nicht das spielen, was vielleicht das Publikum erwartet, sondern das machen, was sie interessiert - eine ganz eigene Musik, eine Art Auseinandersetzung mit Rhythmik und Harmonik. Und das machen sie so intensiv, dass es fast wie eine, allerdings sehr spannende Studie wirkt. Coleman ist ein toller Saxophonist, der das, was er macht, sehr gut macht. Auch wenn er viele Töne braucht und das geschliffen und virtuos macht, mit gestochen scharfen Läufen, ist diese Musik für mich absolut nicht geschwätzig. Und seine Musiker ziehen da mit; spannend etwa die zwei Trompeter, die mit ihrem rauhen, eher ungehobelten Spiel eine schöne Ergänzung zu Colemans Spiel darstellen. Man spürt bei dieser Musik, dass da eine Intention, eine Vision dahintersteckt, mit ganz klaren Vorstellungen, wo die Musik hin will und hin soll.


Christoph Gallio, ganz herzlichen Dank fürs Kommen und Mitmachen.

Aktuelle CD: Christoph Gallio „Mösiöblö  <À Robert Filliou>“ -  A suite with words by Robert Filliou, composed and made to measure by Christoph Gallio. Sarah Maurer, mezzosoprano, Marino Pliakas, g, Thomas Eckert, cl, Christoph Gallio, ss, as, Peter Schärli, guest, tp, flh. percaso production 19, Vertrieb RecRec.  www.percaso.ch




© JAZZ 'N' MORE Nr.2/2002
©Fotos: Johannes Anders



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