Johannes Anders
Musik - Journalist

MANUEL MENGIS

Text und Fotos: Johannes Anders

Manuel MengisManuel Mengis, 1972 in Visp geboren, begann mit 11 Trompete zu spielen. Während eines Austauschsjahrs in Kanada kam er mit dem Jazz in Kontakt. Nach der Rückkehr studierte er zwei Jahre an der ETH Erdwissenschaft und machte die Ausbildung zum Bergführer. Zwischendurch spielte er erstmals in einer Band. Kurz darauf startete er die Ausbildung an der Jazzschule Luzern, vor allem bei Peter Schärli, aber auch bei Lars Lindval, und Nat Su, spielte u.a. mit Roberto Domeniconi, Bruno Amstadt, Hämmi Hämmerli und Bruno Spoerri, begann zu schreiben und machte seinen Abschluss mit Auszeichnung. Hier gründete er auch seine "Gruppe 6", die bis heute sein Hauptbetätigungsfeld ist. Daneben Mitarbeit bei Vera Kappeler, Lens Huber, Harald Haerther, Norbert Pfammatter, Bänz Oester, Arthur Blythe und anderen. Nahm im Radiostudio Zürich 2004 mit seiner "Gruppe 6" die CD "into the barn "auf (hatOLOGY 627). Mengis lebt im Wallis, unterrichtet im Teilpensum Trompete und arbeitet dort saisonal als Bergführer. Im Moment ist er daran, die Musik für eine weitere CD seiner "Gruppe 6" zu schreiben. Kürzlich gewann er mit dieser Gruppe den ersten Rang des Zürcher "ZKB-Jazzpreis 2006".


BIX BEIDERBECKE (1903-1931):

RIVERBOAT SHUFFLE ("Bix Beiderbecke & Frankie Trumbauer", rec. 1927. BIX BEIDERBECKE, co. JSP-CD).

MM: Das erinnert mich an die Charleston-Zeit der Dreissiger, durcharrangiert und trotzdem eine totale Lockerheit, die ein heiteres Grundgefühl vermittelt. Schön die einzelnen, narrativen Ausflüge der Solisten mit ihren verschiedenen Charakteren, die Spielfreude, das Tänzerische, Charmante, Witzige … Die Zeit hätte ich gern mal erlebt.


WOLFGANG MITTERER (*1958):

COLOURED NOISE – BRACHIALSINFONIE ("Festival Wien Modern 2005". Klangforum Wien, Dir. Peter Rundel, W. Mitterer, org, electr. Privat-CD).

MM: Was mich am Anfang am meisten mitgerissen hat, ist dieser wie rückwärtslaufende, elektronische Zeitraffereffekt und dazu die akustischen Elemente, die wie in die Gegenrichtung, also vorwärts fliessen, sodass eine Art Schwindel- oder Taumelgefühl entsteht, auch durch die Bilder, die sich in rascher Folge ablösen. Und trotzdem erkennt man im Verlauf eine sich entwickelnde Form. Sehr spannende Sache, die bei mir auch visuelle Assoziationen auslöst, wie bei aller Musik, die mich fasziniert.


STAN KENTON ORCHESTRA:

Manuel MengisA TRUMPET / CITY OF GLASS ("Plays Bob Graettinger", rec. 1953. MAYNARD FERGUSON, tp. Capitol-CD).

MM: Ein Orchester mit riesiger stilistischer Bandbreite und grossen Sprüngen, von futuristischen E-Musik-Anklängen mit diesen Clusterballungen über kraftvolle Brassklänge in die hohen Register und Holzbläserparts bis zu üblichen Bigband-Sounds mit fast überspitztem Galeerenrhythmus mit Pauke usw. Der Trompeter ist natürlich ein "Riesentier, ein Supervirtuose, wahrscheinlich Maynard Ferguson -  super diese Logik auch in den hohen Registern, vor allem am Schluss; das hat mich bewegt. Generell hat mirs aber nicht so gefallen, ist mir zu überladen.


OSCAR PETERSON TRIO & ONE:

SQUEAKY'S BLUES ("Oscar Peterson Trio + One", rec. 1964. CLARK TERRY, tp. EmArcy-CD).

MM: Da geht ziemlich die Post ab. Beeindruckend natürlich der Trompeter, wie schön er rhythmisch spielt und phrasiert und sich sicher in den für den Blues typischen wiederholenden Elementen bewegt, sehr virtuos, mit sinnvollen Linien, nicht banal oder unkontrolliert, wie man das sonst bei schnellen Läufen oft beobachten kann. Heute würde man vieles auch des Pianisten als zitathaft empfinden, aber damals gehörte das zur Qualität orgineller Bopsprache. 


PETER EÖTVÖS (*1944):

JET STREAM / 2002 ("Gruber / Eötvös / Turnage", rec. 2004. Auszug. Gothenburg Symphony Orchestra, Dir. Peter Eötvös, HÅKAN HARDENBERGER, tp. Universal-CD).

MM: ... fast schmerzhaft, dieser nicht aufgelöste Schluss mit dem einsamen Trompetenton. Sehr reizvoll die Klangkombinationen mit Trompete, Perkussion, Bläsern und überhaupt erfreulich, dass jetzt wieder vermehrt für Trompete geschrieben wird. Phantastisch gespielt in jeder Hinsicht, könnte Friedrich oder Stockhausen sein und schön die wechselnden Klangcharaktere und das Trompetenspiel mit Nähe und Distanz … 


ORNETTE COLEMAN + JOACHIM KÜHN / COLORS:

Manuel MengisREFILLS ("live from Leipzig", rec. 1996. Auszug. O. COLEMAN, tp, J. Kühn, p. Harmolodic-CD).

MM: Schade, dass der Ausschnitt nicht länger geht , hat mir sehr gefallen, auch der frei spielende, orchestrale Pianist. Und dann kommt, wie eine Art Gegenpol dazu, diese gefühlsbeladene Trompete, weniger auf Virtuosität als auf Klangbewusstsein setzend, wunderschön gespielt, mit den zerrissenen Klängen am Anfang und der emotionellen Power, bis es dann auf dem Altsax Coleman-mässig weitergeht. Sehr beindruckend.


DIMITRIJ SHOSTAKOVICH (1906-1975):

CONCERTO FOR PIANO, TRUMPET AND STRING ORCHESTRA NO.1 OP. 35 / 1933 ("Dimitrij Shostakovich", rec. 2002. Auszug. SWR Rundfunkorch. Kaiserlautern, Dir. Jiří Stárek, PETER LEINER, tp. Hänssler-CD).

MM: Eine Musik mit viel hineingebauten, volksliedhaft wirkenden Zitaten, was eine Art Karusselcharakter ergibt, mit Sachen, die sich harmonisch beissen und dann doch zusammenfinden – sehr reizvoll, solange es nur ein Teil des Stückes ist und nicht immer so läuft, sonst würde es langweilig werden. 


CHET BAKER (1929 – 1988):

1.) BERNIE'S TUNE ("The Gerry Mulligan Quartet", rec. 1953. CHET BAKER, tp. Vogue-45EP).

2.) BEA'S FLAT ("featuring Russ Freeman", rec. 1953. CHET BAKER Quartet. Pacific Jazz-LP).

3.) THE BEST THING … ("Live at Nick's", rec. 1978. CHET BAKER Quartet, feat. Phil Markowitz, p. CrissCross-LP).

4.) PENT-UP HOUSE ("Diane", rec. 1966. Duo CHET BAKER – Paul Bley. SteepleChase-LP).

5.) WELL YOU NEEDN'T ("The Last Great Concert", rec. 1988. NDR Big Band, dir. by Dieter Glawischnig. ENJA-LP).

MM: Alle fünf Beispiele haben einen coolen Approach, angefangen beim Mulligan-Stück mit den schönen Kollektivimprovisationen. Und überall die absolute Gelassenheit und Dominanz des Melodischen und des Wohlklangs, was aber keinesfalls langweilig ist – und es groovt wie verrückt, obwohl alles sehr dezent ist. Auch bei 2 ist das narrative Element dominierend. Bei 3 ist die Trompete nicht gut aufgenommen. Zusätzlich wirkt die melodiöse Klarheit fragmentarischer und das Spiel ist wie ein Kampf mit dem Background. 4 ist natürlich als Duo eine extreme Herausforderung, aber schön, wie das Thema zitiert und umspielt wird. Die Trompete jedoch, obwohl locker gespielt, mit Ansatzproblemen und einem irgendwie gebrochenen Klang. Bei 5 ist der Miles-Einfluss spürbar und wie bei 4 ein bekanntes Thema mit einem narrativ und logisch aufgebauten Solo. 1 bis 4 ist ganz klar der Chet, aber 5 ? Auch der Chet ? - ist ja krass, hätte ich nicht gedacht.


LUCIANO BERIO (1925-2003):

SEQUENZA X – 1992 ("Neue Musik für Solotrompete". REINHOLD FRIEDRICH, tp, Thomas Dubuis, verstärkte Klavierresonanzen. DLF 2006).

MM: Gefällt mir auf Anhieb sehr, Supertrompeter, "geil", zuerst das reduzierte Tonmaterial mit den wenigen Intervallen, die viel Raum lassen; dann kommen rhythmische Variationen, mehr Tonmaterial, Doppelzunge, Trippelzunge …, hat einen klaren Aufbau, verliert nie an Spannung, ein unglaublicher Trompeter.


MARKUS STOCKHAUSEN (*1957):

Manuel Mengis1.) RUF DER ERDE ("Close To You", rec. 2000. M. STOCKHAUSEN, tp, Enrique Diaz, fl, b, voc. Aktivraum-CD).

2.) JUDAN ("Moving Sounds – Thinking About", rec. 2002. M. S., tp, Tara Bouman, cl, basseth. Aktivraum-CD).

3.) WELCOME ("Aparis", rec. 1992. Auszug. M.S., tp, flh, Simon Stockhausen, keyb, ss, Jo Thönes, b. ECM-CD).

4.) MICHAELS REISE – KARLHEINZ STOCKHAUSEN - 1977/78 ("Michaels Reise – Solisten-Version", rec. 1986. M.S. & Ensemble, K. Stockhausen, Klangregie. ECM-CD).

 MM: Das ist natürlich ein Trompeter, der aus der Klassik kommt, vermutlich Stockhausen. 1 und 2 haben gewisse Ähnlichkeiten - Pentatonik, Phrasenaneinanderreihungen, Ethno- und Transmix mit sphärischem Touch, finde ich komisch. 2 hat zwar ein schönes Masada- oder Klezmer-Thema, aber die solistischen Exkurse haben wenig Bezug dazu. In 3 ist der Einsatz der Elektronik interessant, obwohl auch da wieder Geschmäcklerisches ins Spiel kommt. 4 überzeugt mich am meisten, ist eindeutig im E-Musikkontext; spannend,  wie die Trompete eingesetzt wird, mit viel Space, mit Artikulationsreichtum, verschiedenen Sounds und Dynamikvarianten und gar nicht steril oder intellektuell …Hier zeigt er, was er wirklich kann. Seltsam und enttäuschend, wenn ein Superinstrumentalist Sachen macht wie bei 1 und 2.


HERBIE HANCOCK QUINTET:

THE EYE OF THE HURRICANE ("Maiden Voyage", rec. 1965. FREDDIE HUBBARD, tp. Blue Note-CD).

MM: (Pfeift mit …): Von "Maiden Voyage" - sehr eindrücklich, hat mich aber vom Approach, von seiner Stimme her nie so richtig bewegt, obwohl er sicher neues Material benutzt, das vorher nur wenige Trompeter so gebraucht haben, auch was den Phrasenaufbau, die Quartensprünge usw. betrifft.


GYÖRGY LIGETI (1923-2006):

MYSTERIES OF THE MACABRE ("Neue Musik für Solotrompete". Auszug. HÅKAN HARDENBERGER, tp, Roland Pöntinen, p. DLF 2006).

MM: Da hätte ich Lust, mehr zu hören, grossartig gespielt, wirkt irgendwie musiktheatralisch. Im Bereich grosser klassischer Trompeter ist es immer schwierig,  zu unterscheiden, wer das jeweils sein könnte, denn sie haben einerseits alle einen sehr hohen technischen Standard und müssen sich anderseits sehr genau an die präzisen spieltechnischen Anweisungen halten, wodurch der Raum für Individuelles sehr eingegrenzt ist. 


MILES DAVIS SEPTET:

AUSZUG ("Live at Stadthalle Dietlikon / ZH", rec. 1971. M. DAVIS, G. Bartz, Keith Jarrett, fender-rhodes, M. Henderson, L. Chandler, J. Formen, D. Alias. SR DRS2.

MM: Das ist aus den 70er Jahren und mit allem drumherum eindeutig Miles; schön der Einsatz der Congas, den ich sonst kaum so lange ertrage. Es hat schon ein paar tote Momente, aber generell schon "geil", Hendrix-inspiriert, mit dieser wunderbaren, groovigen, dreckigen Soundkultur … 


TRIO MADEIRA & GUESTS:

BOLE BOLE ("Brasileirinho – Mika Kaurismäki", Film Sound Track, rec. 2005. SILVÉRIO PONTES, tp. Tropical Music-CD).

MM: Super, wie der Rhythmus am Anfang gedreht wird, guter Trompeter, erinnert mich vom tänzerischen Element und vitalen Kollektivspiel stark an das Beiderbecke-Beispiel. JA: Thema des gerade angelaufenen, mitreissenden Musikfilms "Brasileirinho", von dem diese CD stammt, ist ja auch die alte "Choro"-Musik, die Ende des 19. Jahrhunderts in Brasilien entstand.  


MAX ROACH – CLIFFORD BROWN QUINTET:

JORDU ("The Historic California Concerts 1954". M. Roach, dr, C. BROWN, tp, H. Land, ts, R. Powell, p, G. Morrow, b.  Fresh Sound-CD).

MM: Das sind Chorusse, die Logik und Form haben, wo jeder Ton stimmt, ist eine Kunstart, die wie eine natürliche Sprache wirkt, gehört zur Grundausbildung jedes Trompeters – ist Clifford Brown. 


MAHMOUD FADL:

Manuel MengisALA BALAD EL MAHBOUB ("Mahmoud Fadl - Nubian Master Drummer Of The Nile, feat. SAMY EL BABLY, TrumpetOriental". pi'ra:nha-CD).

MM: Sehr schön, hat mir supergut gefallen, aus dem türkischen oder arabischen Raum; das Material wird bezüglich Form und Modi sehr sorgfältig behandelt und wirkt echt, auch die gesangliche Qualität der Trompetenstimme – eine Entdeckung! 


DIZZY GILLESPIE QUINTET (1917-1993):

BE-BOP ("Jazz Makers", rec. 1963. D. GILLESPIE, tp, J. Moody, ts, K. Barron, p. Philips-45EP).

MM: Ist Dizzy, grossartiger Trompeter; man erkennt ihn u.a. an seinen alterierenden Tönen, auf denen er verweilt, hat harmonisch viel weiterentwickelt, gleitet auch bei hohen Tempi nie in belanglose Girlanden ab.


GEORG LEWIS ENSEMBLE:

OCTAVIA'S DREAM ("Sequel – for Lester Bowie, A Composition For Cybernetic Improvisers", rec. 2004. Auszug vom Anfang. SWR NEWJazz Meeting Baden-Baden. INTAKT-CD). 

MM: Das müsste man natürlich im ganzen Kontext hören, denn die sind noch am Entwickeln und die Klangbalance ist noch nicht so ausgeprägt wie z.B. bei Mitterer. Da ist die teilweise kalte Dominanz des Computers und dagegen die Klangkultur und die warmen Sounds und Harmoniefolgen der Gitarre, der Drummer nimmt sich hier sehr zurück und es gibt keinen Groove …, schwierig, mehr zu sagen.


ALVIN SINGLETON (*1940):

VOUS COMPRA ("Somehow We Can", rec. ca. 2002. WALADA LEO SMITH, tp, Anthony Davis, p. Tzadik-CD).

MM: Das scheint kein klassischer Trompeter zu sein, aber Jazzer, die das so exakt spielen, gibt es auch wieder kaum … Viel freies Improvisieren der beiden; ist nicht streng komponiert, auch wenn, wie du sagts, der Autor als Komponist bekannt ist. Wenn etwas komponiert sein sollte, dann nur die motivischen oder graphischen Vorgaben.


DAVE DOUGLAS:

LEAP OF FAITH ("Leap Of Faith", rec.1998. D. DOUGLAS, tp, C. Potter, ts, J. Genus, b,  B. Perowski, dr. Arabesque Jazz-CD).

MM: Douglas ist ja ein Trompeter mit hohem Wiedererkennungswert, aber auch mit hohem Output, hat als Spieler wie als Schreiber eine grosse Bandbreite. Hier überzeugt er mich nicht so wie zum Beispiel mit seinem Tiny Bell Trio, mit Masada  oder wie Freddie Hubbard auf "Mayden Voyage". 


KARLHEINZ STOCKHAUSEN (*1928):

PIETÀ ("Neue Musik für Solotrompete". MARCO BLAAUW, Viertelton-Flügelhorn, Barabara Hannigan, Sopran. DLF 2006).

MM: Wie heisst der Komponist – wieder Stockhausen – krass! Was hier total interessant und wichtig ist, ist die Duo-Kombination Trompete mit Frauenstimme, eine solistisch hochkomplizierte Art der Kommunikation und was besonders auffällt, ist der Range der Trompete mit diesen riesigen Sprüngen, diese grossartige Technik, auch mit den "Pedaltönen", also der speziellen Artikulationsart der Tonhöhenerweiterung mittels Atem, Lippen und Luft. Das Ganze hat eine Art schwermütigen Charakter … Ich glaube, ich muss mich intensiver mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen beschäftigen.

 

Manuel, danke, dass du aus dem Wallis nach Nürensdorf gekommen bist. 


  
 

© JAZZ 'N' MORE Nr. 5/2006
Fotos © Johannes Anders 



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