Johannes Anders
Musik - Journalist

ALFRED ZIMMERLIN

Text Johannes Anders

Alfred Zimmerli 1Geboren 1955. Studium der Musikwissenschaft und Musikethnologie an der Universität Zürich bei Kurt von Fischer und Wolfgang Laade. Theorie bei Peter Benary, Kompositionsstudien bei Hans Würthrich-Mathez und Hans Ulrich Lehmann. Seit 1980 Mitarbeit in der "Werkstatt für improvisierte Musik" (WIM) Zürich. 1982 und 1984 Werkjahrstipendien des Aargauischen Kuratoriums, 1985 Résidence in Paris, 1986 Musikpreis der C. F. Meyer-Stiftung, 1988 Werkjahr für Komposition der Stadt Zürich, längerer Aufenthalt in den USA, 1999 erneut Werkjahr des Aargauischen Kuratoriums. 2001 auf Einladung von Pro Helvetia Résidence in Kairo. Als improvisierender Musiker (Violoncello) international in verschiedenen Formationen tätig, Konzerte und Rundfunkaufnahmen in Europa und den USA. - Die Werkliste von Alfred Zimmerlin umfasst bis heute gegen fünfzig Kompositionen, darunter zehn Klavierstücke, Kammermusik mit oder ohne Live-Elektronik, Vokalmusik. Seine jüngsten grösseren Werke sind "Weisse Bewegung" für Violoncello, Klavier und Schlagzeug, "In Bewegung (Nature Morte au Rideau)" für Klavier, dreizehn Solostreicher und Tonband, "In Bewegung (La pendule de marbre noir)" für Traversflöte und dreizehn Streichinstrumente und "Paysage bleu" für Chor, Orchester und Tonband. - Als improvisierender Musiker ist Alfred Zimmerlin auf zahlreichen Schallplatten zu hören, darunter Aufnahmen mit dem Trio KARL ein KARL, dem Tony Oxley Celebration Orchestra, Christoph Gallio, The Great Musaurian Songbook u.v.a.m. Kompositionen von ihm wurden auf den Labels Jecklin Disco, RÉR, Altri Suoni und Edition Wandelweiser Records veröffentlicht. Seit seinem Weggang vom Tages-Anzeiger 1994 gehört „azn“ zum E-Musik-Kritikerteam der NZZ. 


LENNIE TRISTANO:

CLASSICS IN JAZZ („Intuition“, rec. 1949. L.Tristano,p, Lee Konitz, as, Warne Marsh, ts, Billy Bauer, g, Arnold Fishkin, b, Denzil Best, dr. Capitol-45 EP).

AZ: Lennie Tristano 1949, mit Lee Konitz; habe das ewig nicht mehr gehört, ist aber „Intuition“ oder „Digression“ - ganz tolle Aufnahmen, haben mich damals beim ersten Hören umgehauen. Der erste Eindruck: Ein Pianist mit sehr hohem harmonischen Abstraktionsvermögen; es war dann sofort klar: Tristano!


DON CHERRY / KRZYSZTOF PENDERECKI:

ACTIONS („Actions for Free Jazz Orchestra“, rec. live at Donaueschinger Musiktage 1971, Auszug. M.Schoof, K. Wheeler, T. Stanko, tp, P. Rutherford, A. Mangelsdorff, tb, G. Dudek, P. Brötzmann, W. Breuker, sax, G. Hampel, vib, T. Rypdal a.o. , Leitung: K. Penderecki. Intuition-Wergo-CD).

AZ: Das ist nicht einfach..., sind vermutlich keine Studio- sondern Live-Aufnahmen, ein Orchester, das über weite Strecken frei improvisiert; aber eine kompositorische Struktur ist da. Die Leute kommen entweder aus der „Art Ensemble Of Chicago“-Ecke oder kennen das sehr gut; bin aber trotzdem nicht sicher, ob das wirklich Amerikaner sind; vieles weist eher auf Globe Unity hin, sind alles Spielweisen, die mir sehr bekannt vorkommen...   Zu jedem Instrument kommen mir mehrere Namen in den Sinn, die in diese Richtung arbeiteten.


ANTHONY BRAXTON:

DEDICATED TO THE HISTORIAN-WRITER-EDUCATOR EILEEN SOUTHERN („308M... for four Orchestras“, rec. 1978, Auszug. 160 Musicians. Arista-3LP-Kassette.

Alfred Zimmerli 2AZ: Die Handschrift kommt mir bekannt vor, aber nicht so, dass ich gerade sagen könnte, wer oder was das ist. Es ist ein komponiertes Stück in der Nachfolge seriellen Komponierens, aber noch mit gewissen seriellen Organisationsformen, vor allem auch, was das Klangliche betrifft, wie mit der Instrumentation gearbeitet wird. Manchmal hat es für mich eine etwas stereotype Gestik, vor allem in den dichter gesetzten Stellen. Mir gefällt aber sehr, wie hier mit der Dichte gearbeitet wird, dass da grosse Unterschiede gemacht werden. Einen kurzen Moment dachte ich an Stockhausens „Gruppen“, ist es aber nicht, denn das Stück kenne ich gut. JA: Der Komponist nennt tatsächlich Stockhausen als eine seiner Haupteinflüsse. AZ: Aber „Gruppen“ ist viel interessanter und phantasievoller. Im eben Gehörten gibt es jedoch keine narrative Dramaturgie, alles bewegt sich in einem bestimmten Feld wie das etwa Amerikaner gern machen... (Nach Bekanntgabe:) Ich schätze eigentlich Braxton sehr, habe mich als improvisierender Musiker sehr gern mit ihm auseinander gesetzt, auch an ihm gerieben und Stücke von ihm analysiert...  


 

JANE IRA BLOOM / FRED HERSCH:

AS ONE („Waiting for Daylight“, rec. 1984, Auszug. J.I. Bloom, ss, F. Hersch, p. Winter & Winter/JMT Edition-CD).

AZ: Das könnte aus der skandinavischen Ecke kommen; der Sound des Saxophons, die Licks und wie der Ton angeblasen wird, das erinnert mich total an Garbarek. Eine schöne Aufnahme, harmonisch sehr reich, ein spannendes Stück, auch, wie darüber gespielt wird, gefällt mir sehr. (Ich hatte in den 70er und frühen 80er Jahren eine grosse Affinität zu Garbarek und seine Musik ausserordentlich geschätzt.)


KING ÜBÜ ORCHESTRÜ:

MUSIC IS MUSIC IS („So Is This“, rec. 1984, Auszug. W. Fuchs, ss, bcl, N. Möslang, ss, cl, G. Mazzon, tp, R. Malfatti, tb, Ph. Wachsmann, viol, electr, E. Hirt, g,  P. Lytton, dr, A. Zimmerlin, cello, div. pickups, und weitere Spieler.  Uhlklang-LP).

AZ: Lacht..., das musstest du mir natürlich noch unterjubeln...; kein Kommentar! JA: Wieso nicht, es spielen ja noch andere mit... AZ: Also: Sehr schön, wie der Phil Wachsmann hier in diesem Kontext seine Sache durchzieht. War eine Gruppe, die unwahrscheinlich gut gehört hat, was wahnsinnig schwer ist bei einem verhältnismässig doch grossen Orchester. Es wurde ja völlig frei improvisiert und doch kriegte man klare Strukturen hin. Habe die Aufnahme ewig nicht mehr gehört, aber auch aus Distanz eine saugute Band, die Qualität hatte! 


HANS ZENDER - SWR SINFONIEORCHESTER: 

SCHUBERT, WEBERN, SCHUBERT (A. Webern: „Variationen für Orchester“, op.30, 1940. Aufn.-Dat. ?. SWR>> Faszination Musik/Hänssler-Classic-CD).

AZ: ...ein sehr Webern‘scher Gestus, aber ich würde meinen, er ist es nicht, denn es hat einige Dinge, die davon wegführen, - vielleicht ein nach seinem Tod entstandenes Werk... Oder ist es doch Webern...? Es erinnert jedenfalls sehr stark an ihn, durch bestimmte Klangballungen, die mich erstaunen wie auch die Art der Instrumentierung... JA: Und die Interpretation? AZ: Es ist ein Dirigent, der genau mit den Zeitverläufen des Stückes umgeht, die Übergänge sehr genau macht und das ist bei dieser Musik äusserst heikel. Also ein Dirigent mit Metier und ziemlich feinem Klanggespür für die Balance im Orchester. (Nach Bekanntgabe:) Verdammt noch mal, sind das doch die „Variationen“...; was mich etwas irritiert hat, ist die für Webern unübliche, grosse Orchesterbesetzung. Aber alles in allem zeigt das, wie revolutionär dieses Stück ist.


ZENTRALQUARTETT:

(„Synopsis“, rec. 1990, Auszug. C. Bauer, tb, U. Gumpert, p, E.-L. Petrowsky, sax, cl, fl, G. Sommer, dr. Intakt-CD).

AZ: Sehr schöne Aufnahme! Die Musik hat eine tolle Energie; wahnsinnig schön, wie die zusammenspielen, wie diese parallelen Linien laufen... Ich denke da an das Umfeld von Braxton: George Lewis, Marilyn Crispell..., alles Amerikaner. Der Beginn mit diesen scharfen Schnitten, den Wechseln zwischen geschriebenem Gestus und freier Improvisation..., das erinnert mich jedoch an Dinge, die ich in Europa gehört habe. Der Saxophonist kommt mir sehr bekannt vor. Und wie im Kollektiv gearbeitet wird, jeder sich seinen Raum nimmt und ausfüllt, ohne dem anderen den Raum zuzutun... Nimmt mich doch Wunder, wer das war. Was, das war der Conny und der Luten..., tolle Aufnahme! 


MARKUS STOCKHAUSEN & DHAFER YOUSSEF:

IN DEINER NÄHE – CLOSE TO YOU („In Deiner Nähe“, rec. 2000, Auszug. M. Stockhausen, tp, Dhafer Youssef, ud, voc. Aktivraum-CD).

AZ: Ich habe nichts gegen grosse Hallräume...(JA: Es ist eine Kirche...), aber hier wird das präzise Hören von Klangfarben etwas erschwert. Das eine Instrument des Duos ist eine Laute, vermutlich eine arabische, jedenfalls wird es mit dieser Technik gespielt. Und auch die Musik spielt mit Elementen der klassischen arabischen Musik, auch wenn nicht allzu sehr. Ich tippe da auf den nordafrikanischen Raum nordwestlicher Richtung, also Marokko, Tunesien... Es ist ein sehr guter Lautenspieler, der wahrscheinlich auch der Sänger ist, wobei die nordafrikanische Kultur beim Singen noch deutlicher wird. Er singt im Brustregister, was eine typische arabische Art ist. Aber auch die Klangbildung und das Abreissen nach langgehaltenen Tönen gehört zur typischen, sehr expressiven arabischen Art, zu singen. Der Trompeter ist ein Jazzmusiker, der mich mit seiner Phrasierung, Klang- und Melodiebildung zuweilen etwas an Kenny Wheeler erinnert. Ein irreguter Trompeter und eine ganz spannende Aufnahme! (Anmerkung JA: Die beiden gaben ja am 10. November im Anschluss an das Maria Schneider Jazz Orchestra zusammen mit Dieter Ilg und Jojo Mayer im Kleinen Tonhallesaal ein wunderbares Konzert.)


ABSOLUTE ENSEMBLE:

CONDUCTED BY KRISTJAN JÄRVI (Arnold Schönberg: Kammersymphonie No.1, op.9, for 15 solo instruments, 1906. Auszug. CCn’C Records-CD).

AZ: Eine Stelle hat mich sehr irritiert, weshalb ich mich kurz fragte, ob es sich um eine Bearbeitung handelt...(JA: oder um eine spezielle Interpretation..) Also, es ist natürlich die Kammersymphonie von Schönberg, der langsame Abschnitt, - eine moderne Interpretation, bei der man spürt, dass seit der Entstehung und dieser Aufnahme ein geschichtlicher Zeitraum dazwischen liegt; Schönberg selbst hätte das sicher anders gemacht..., aber eine Interpretation mit tollem Atem.  


BARRY GUY / MARILYN CRISPELL / PAUL LYTTON:

ODYSSEY („Rags“, rec. 1999, Rote Fabrik, ZH, Auszug.  B. Guy, b, M. Crispell, p, P. Lytton, dr. Intakt-CD).

AZ: Eine verrückte Sache...Sehr schön, wie das Material mehr und mehr aufgelöst wird, bis das Ganze dann in dieses energetische Spiel mündet. Da sind Leute am Werk, die ihr Handwerk verstehen! Ganz tolle Musiker oder Musikerinnen. Sehr irritierend das Schlagzeug am Anfang, völlig weit draussen und weit weg und doch ganz drin. Dachte kurz an Paul Lovens und beim Piano an Paul Bley. Beim Hineingehen ins Intensive kam mir dann jedoch Marilyn Crispell in den Sinn und bestimmte Dinge beim Bass erinnern mich an Barry Guy.


MICHAEL MOORE:

MONITOR („Five Bits“, rec. 1999. M. Moore, cl, as, C. Fuhler, p, ham.org, Tristan Honsinger, cello. between the lines-CD).

AZ: Diese Musik hat ihre orginellen Seiten, aber ich empfinde sie als wahnsinnig geschwätzig. Sie möchte gerne lustig sein und es steckt ein unheimlicher Mitteilungsdrang drin, sie sagt aber eigentlich garnicht so verdammt viel. Sicher wurde dafür viel geübt, es kommt aber nicht viel raus dabei.


NEW CONNEXION:

FEATURING GREG OSBY („Approach“, rec. 2000, Auszug. Michael Arbenz, p, Tibor Elekes, b, Florian Arbenz, dr, Greg Osby, sax. Meta-CD).

AZ: Das gefällt mir! Ein sehr schönes Thema, auch wie es rotiert und die Sache in Gang bringt; und ganz stark, wie der Pianist das thematische Material einbringt und verarbeitet, wie mit diesem An-Ort-Treten des Themas gespielt und die Sache trotzdem vorwärts getrieben wird. Phantastisch auch das Zusammenspiel mit dem Schlagzeug und der Einstieg und die Improvisationen des Saxophons. 


DONAUESCHINGER MUSIKTAGE 2000:

(Vinko Globokar: „Der Engel der Geschichte“, 2000, Auszug. SWR-Sinfonieorchester, Leitung: Sylvain Cambreling, Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR. Col legno-4CD-Kassette).   

AZ: Ein Riesenorchester..., und ein Komponist, der noch emphatisch avantgardistisch denkt, der seltsame Brüche liebt, die aber sehr präzise gesetzt sind...; eine  dramatische, dichte Musik von grosser Intensität, auch klanglich, und von der Besetzung her sehr reichhaltig. Es ist vermutlich jemand, der schon in den sechziger Jahren komponiert hat, vermutlich aus der Generation Globokar usw., den ich übrigens sehr mag. 


KEITH JARRETT/GARY PEACOCK/JACK DEJOHNETTE:

INSIDE OUT („341 Free Fade“, rec. live in London 2000, Auszug. ECM-CD).

AZ: Es sind Leute, die mit sehr lockerem Handgelenk sehr entspannt improvisieren. Gutes Zusammenspiel der drei. Eine Live-Aufnahme(?) Die Dichte ist in diesem Teil immer etwa ähnlich hoch, auch bei den Soli, was wie das sehr stark in den Vordergrund gemischte Klavier erschwert, durchzuhören, was die einzelnen Spieler genau machen. Aber eine ziemlich orginelle Sache und ein hervorragender Klavierspieler, der schön mit Klang und Registern umgeht. Er kommt mir wie der Drummer und auch der Bassist, der das Spiel in hohen Lagen liebt, sehr bekannt vor. 


BLAGOMIR ALEXIEV:

IN THE END OF THE ROAD (Klangkomposition, rec. 2001 Sofia. SWR-Karl-Sczuka-Förderpreis Donaueschingen 2001. Doc-CD).

AZ: Das ist ein Tonbandstück, das auf Sprache basiert, bei dem alle Klänge aus der Sprache herausgezogen sind, - mit Samplingtechnik, mit Geräuschen, Pfeiftönen usw., die durch Transformation erzeugt wurden. Es ist ein Stück, das man  als eine Art „musique concrète“ bezeichnen könnte, das jedenfalls aus dieser Tradition kommt und vermutlich neueren Datums ist, wie ich aus der Perfektion der Klang- und Verarbeitungsqualität schliesse, realisiert mit modernster Studiotechnik...(Anmmerkung J.A.: Laut Werkbeschreibung beruht die Komposition tatsächlich auf den Klängen einer weiblichen Stimme, die der Autor „in ein Audiospektrum zerlegt hat...“. Der „Karl-Sczuka-Preis“ wird vom SWR jedes Jahr für die beste Produktion eines Hörwerks vergeben, „das in akustischen Spielformen musikalische Materialien und Strukturen benutzt“.)


BILL HOPKINS:

COMPLETE PIANO MUSIC („Sous-structures“, 1964, rec. 1998, Auszug. Nicolas Hodges, p. col legno-CD).

AZ: Nicht einfach, vermutlich komponiert, wobei es auch improvisiert sein könnte - von jemandem mit einem starken kompositorischen Bewusstsein. Der Klaviersatz erinnert an Stockhausen, auch an Jean Barraqué, kommt jedenfalls aus dieser Ecke. Aber es gibt Dinge, die herausfallen: Für Barraqué ist es zuwenig dicht und für Stockhausen hat es zu viele Läufe...; komponiert vermutlich in den späten sechziger Jahren von jemandem, der das Klavier als Instrument sehr genau kennt oder selbst Klavier spielt... (Anmerkung JA: Hopkins war u.a. Barraqué-Schüler.) 


DAVE DOUGLAS:

WITNESS („Kidnapping Kissinger“, rec. 2000. D.Douglas, tp, Chris Speed, cl, ts, J. Daley, tba, M. Feldman, viol, E. Friedlander, D. Gress, b, M. Sarin, dr, I. Mori, electr.perc, a.o. Bluebird-BMG-CD).

AZ: Eine Musik, die im Detail improvisiert und formal sehr organisiert ist und eine gewisse Strenge hat. Die Organisationsform könnte dirigiert sein oder aus der Partitur hervorgehen, aber auch eine selbstorganisierte Spielform sein, wo mit gegenseitigen Zeichen agiert und gesteuert wird. Eine sehr interaktive Angelegenheit, sehr präzis gespielt, phantasievoll, sehr spannend. Erinnert mich in der Feingliedrigkeit und den schnellen Wechseln an John Zorn.


DONAUESCHINGER MUSIKTAGE 2001:

ABSCHLUSSKONZERT 21.10.2001 (James Dillon: „La Navette“, 2001, Uraufführung, Auszug. SWR-Sinfonieorchester, Leitg. Sylvain Cambreling. Sendung SWR2, 30.10.01).

AZ: Wieder ein Riesenorchester. Extrem dicht, sehr pathetische Musik, pathetisch bis pompös, ein Stück, das unausgesprochen oder ausgesprochen den Anspruch hat, Sinfonie zu sein, das Welt sein möchte. Das Pulsieren verweist etwas auf Minimal Music, aber es ist kein amerikanischer Komponist – eine inhaltlich sehr aufgeladene Musik, ist nicht meine Lieblingsmusik. (Anmerkung JA: Den Engländer Dillon habe ich ausgewählt, weil er bei den Ende November stattgefundenen Zürcher „Tagen für Neue Musik“ gleich dreimal vertreten war.) 


MAHMOUD TURKMANI:

NUQTA („Hdiye“, rec. 1999. M. Turkmani, Oud. ENJA-CD).

AZ: Ein Oud-Spieler, der sehr kreativ mit der klassischen arabischen Musik umgeht. Ein Stück, das über einem Maqam in der Form eines improvisierten Taqsim entwickelt wird, aber auch in anderen Skalen moduliert wird. Er geht auch sehr kreativ mit der rhythmischen Seite dieser Musik um. Ein klassischer Taqsim würde völlig anders klingen. Also ein moderner Spieler, der diese Tradition sehr bewusst erneuert, habe ich den Eindruck, und der die Tradition liebt. Es geht ihm nicht darum, die Tradition auszubeuten, um irgend etwas Neues herzustellen, sondern es geht ihm wirklich um ein Lebendig-erhalten - und es lebt, wie er das spielt und das gefällt mir sehr und ich bin sehr überrascht, wie er das macht. Genau lokalisieren kann ich das diesmal nicht. Der Spieler scheint jedoch aus einem Land östlich von Ägypten zu stammen, aus dem Irak vielleicht oder aus dem Libanon usw. (Anmerkung JA: Turkmani stammt aus dem Libanon.)


ICEBREAKER:

EXTRACTION („Mad Legs“, rec.?. between the lines-CD). 

AZ: Auch diese Leute haben wahnsinnig geübt. Eine ziemlich orginelle Sache, wie Dinge, die vom Jazz her kommen, mit Dingen der Minimal Music zusammengebracht werden. Ich weiss nicht, ob es irgendwo improvisatorischen Freiraum gibt, oder ob wirklich alles Note für Note aufgeschrieben ist. Es hat improvisatorische, jazzmässige Gesten drin, die dann aber wieder so präzise kommen, das man annehmen muss, das sei aufgeschrieben. Von der Tongebung her sind das Leute, die irgendwo zwischen Jazz und der klassischen Musik drin sind, aber starke Wurzeln im Jazz haben. Eine Musik, die eine Leichtigkeit und auch Humor hat und dabei nicht dumm wird beim Lustigsein. Wer ist denn das ? JA: Icebreaker ist eine britische Band, die 1989 von den Komponisten/Musikern James Poke und John Godfrey im Zusammenhang mit dem gleichnamigen Amsterdamer „Internationalen Zentrum für neueste Musik“ gegründet wurde.


EUROPÄISCHER MUSIKMONAT BASEL NOVEMBER 2001:

ERÖFFNUNGSKONZERT 1.11.2001 (Sir Harrison Birtwistle, *1934: „Earth Dances für Orchester“, 1985/2000, Auszug. Ensemble Modern Orchester, Leitg. Pierre Boulez. DRS2, live aus der Paul-Sacher-Halle Basel).

AZ: Das ist auch ein Komponist, der wie Dillon an einem „Horror vacui“ leidet, also Angst davor hat, zuwenig zu sagen und deshalb gern etwas zuviel sagt. Eine Musik mit hoher Ereignisdichte. Mir gefällt, wie hier mit Melodik umgegangen wird, allerdings sehr von Mixturklängen her gedacht, also eine Mixturklangmelodik. Das Stück hat auch etwas Sinfonisches, obwohl es vermutlich eine Ein-Satz-Komposition ist. Irgendwie gefällt mir das Stück bzw. dieser Ausschnitt, aber es gibt auch Dinge drin, die mir nicht so gefallen, diese wahnsinnige Dichte etwa, die immer ähnlich dicht ist, was manchmal etwas Ermüdendes hat und das Gehör herausfordert, wobei ich prinzipiell nichts gegen derartige Herausforderungen habe. Und auch hier gibt’s Pathetisches. Schwierig, den Zeitpunkt der Entstehung einzuschätzen wie auch die Generation des Komponisten. Es könnte auch ein Jüngerer sein, jedenfalls einer mit einem sehr guten Handwerk. Eine sehr engagierte Interpretation!.


JOHN COLTRANE:

THE OLATUNJI CONCERT - THE LAST LIVE RECORDING („Ogunde“, rec. April 1967, Auszug. Coltrane, ts,ss, Pharoah Sanders, ts, Alice Coltrane, p, Jimmy Garrison, b, Rashied Ali, dr, + Percussion. Impulse/Verve-CD).

AZ: Der Saxophonist kommt mir sehr bekannt vor, habe ihn sicher schon gehört, wahrscheinlich vor einem Vierteljahrhundert, nehme an, er lebt nicht mehr...Von Hymnischen her könnte es Albert Ayler sein... -  ist es nicht ? Dann ist es doch Coltrane. JA: Ja, drei Monate vor seinem Tod. AZ: Spannend: Vom Stil her hat es mich tatsächlich an den späten Coltrane erinnert, aber der Klang...JA: Es sind bisher unveröffentlichte Live-Aufnahmen von nicht optimaler Klangqualität...


ARTURO BENEDETTI MICHELANGELI:

PLAYS BEETHOVEN, CHOPIN, RAVEL (Beethoven: „Piano Sonata in C major“, op.2, No.3, 4. Satz: Allegro assai; Recital at the Vatican, 1987. Michelangeli, p. Memoria/ABM-CD).  

AZ: Ich hatte vermutet, dass es eine Live-Aufnahme ist, denn sonst hätte man bestimmte Sachen nicht durchgelassen. Ein Pianist oder eine Pianistin mit einem härteren Klangideal, so jedenfalls der Eindruck bei dieser Aufnahme.


Alfred Zimmerlin, herzlichen Dank fürs eingehende Hören und Kommentieren und dass Du mein Gast warst.




 © JAZZ 'N' MORE Nr 6/2001
©Fotos von Johannes Anders und Peewee Windmüller

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