Johannes Anders
Musik - Journalist

C H R I S T O P H   B A U M A N N

Text und Fotos: Johannes Anders

BaumannImprovisierender Musiker, Pianist, Komponist, (geboren 1954). Baumann ist Professor für Jazzpiano und Improvisation an der Hochschule für Musik Luzern. Sein künstlerisches Schaffen pendelt zwischen den Polen Improvisation-Komposition. Dabei bildet der Versuch, verschiedene musikalische Stilistiken in grössere dramaturgische Zusammenhänge einzubinden, eine Konstante. Seine musikalische Tätigkeit führte ihn als Leader oder Sidemen auf Tourneen und  Festivals auf der ganzen Welt. Er komponiert für verschiedenste Besetzungen, Film, Tanz, Theater und Hörspiel. Seine ganze musikalische Tätigkeit ist auf CD's breit dokumentiert. - Wichtige Gruppen und Arbeiten: Leitet(e) die Latin-Experimentalformation  “Mentalities“mit Hämi Hämmerli,das Baumann-Hämmerli-Sextett,  „Hausquartett“, mit Urs Blöchlinger die Grossformation “Cadavre exquis“ und das “Rezessionsorchester“.  Mit Jacques Siron arbeitet  er in den Gruppen: “Afro Garage“, “Nuit Balte“  und dem Septett “Rouge, Frisé & Acide“.  Mit Mathias Baumann realisierte er das Projekt  “Symphonic Salsa“ und das Bigbandprojekt  “Kein schöner Land“. Mit Guy Krneta und Isa Wiss kreierte er die Improsoap “Familienalbum“. Arbeitet(e) mit Formationen aus unterschiedlichen Stilbereichen wie “Les Passeurs d' Instants“, “Omnibus“, “Nuevo Sabor“, “Picason“, “Swiss-Fusion“, “Bermuda Viereck“, “Orchestre National de Jazz de La France“ , “La Marmite Infernale“, “Schweizer Schlagzeugensemble“, “No Secrets in the Family“, „Swiss Improvisers Orchestra“,“Potage de Jour“,  “Ton 3“, “Neal Davis Sextet“, “Pianoduo“ mit Anto Pett. (Diese Pianoduo-CD mit dem estnischen Pianovirtuosen Anto Pett – “Northwind Boogie“ auf LEO Records LR 669 – gehört für mich zum Aufregendsten und Spannendsten der letzten Zeit!. J.A.)

BaumannJazz Abstractions:
Variants on a theme of Thelonious Monk: Criss Cross –  Gunter Schuller; “John Lewis presents Contemporary Music“, rec. 1960. Ornette Coleman (as), Eric Dolphy (bcl, as, fl), Jim Hall (g), Eddie Costa (vib), Bill Evans (p), Scott LaFaro, George Duvivier (b), Sticks Evans (dr) & The Contemporaray String Quartet. LP Atlantic. 
JA: Jetzt kommt zuerst ein chronologisch konzipierter Rückblickkomplex mit 8 LPs. CB: Was für mich sehr interessant war, war dieses Intro – was ist das für ein Komponist …, als dann das Vibraphon und der Swing reinkamen, war klar, es ist aus dem Jazzmilieu. Aber man hört dieses Bestreben, die Grenzen des Jazz zu überwinden, was mich sehr faszinierte, diese europäische, quasi zwölftönige, atonale Klanglichkeit, diese dramatische, expressionistische Introduktion, die ich sehr spannend fand. Nach einem eher konventionellen Teil wurde es wieder interessant, wie alle Instrumentalisten immer an die Grenze des Tonalen gehen, diese Mischung zwischen Atonalität - schon fast ein bisschen free - und diesem immer wieder Monkartigen, was mir sehr gut gefallen hat und auch, dass es ziemlich frisch bleibt. Sehr spannend und anregend auch, wie durch die Solistenordnung die zyklische Form unterwandert wird. Im weiteren glaube ich, Dolphy und Ornette rausgehört zu haben.

George Russel:
Stratusphunk – George Russel: “Outer Thoughts“, rec. 1960. George Russel Sextet. 2LP Milestone.
CB: Für mich interessant der Versuch, mit den traditionellen Mitteln auf Bluesbasis dramaturgisch umzugehen; hier wird formal gut gearbeitet. 

BaumannJohn Coltrane & Rashid Ali:
Jupiter (Variation), John Coltrane: “The Mastery of John Coltrane, Vol. III – Jupiter Variation”, rec. 1967. John Coltrane (ts), Rashid Alo (dr). LP Atlantic.
CB: Da hab ich mich irgendwie nach Willisau versetzt gefühlt – eigentlich Freejazz, dass man alles auflöst, in die Grenzbereiche des Instruments geht mit all den Soundeffekten in der Höhe und Tiefe; dann interessant, wie er sich langsam aufbaut, mit pentatonischem Material und sich wiederholenden Figuren, die er immer ein bisschen streckt; spannend, wie er versucht, mit dem alten Material auf der Zeitachse zu bauen, um sich im weiteren dann immer mehr zu befreien bis in Geräuschhaftes. 

The Chris McGregor Group:
The Sounds Begin Again – White Lies – Chris McGregor: “Very Urgent“, rec. 1968. Chris McGregor (p), Dudu Pukwana (as), Mongezi Feza (ptp), Ronnie Beer (ts), Johnny Dyani (b), Louis Moholo (dr). LP Polydor.
CB: Super, dieses Energy-Playing, eine an den früheren Cecil Taylor erinnernde Ästhetik – alles wird aufgelöst…  – dann aber auch Trümmer aus nichtjazzartiger Musik und spannend, wie die hier verwendet werden … CB: … was, das ist Criss McGregor und mit all den bekannten Südafrikanern? Phantastisch.

Guerino Mazzola:
Wärme – Guerino Mazzola: “kelvin null”, rec. 1978. Guerino Mazzola (p). LP OMP.
CB: Die Person, die hier spielt, hat McCoy Tyner studiert, ist von Cecil Taylor beeinflusst und versucht, diese Elemente zu verbinden – es ist dieser quasi 70er-Jahre Sound, modal, minor, Pentatonik … und dann kommen diese Gesten und Klangelemente, die vom Freejazz herkommen, es werden keine Läufe gespielt, nur Module, die gegeneinander verschoben werden. JA: Der Pianist ist übrigens Mathematiker, Muskwissenschaftler unjd Buchautor …  CB: … dann ist es Guerino Mazzola. JA: … und die kurzen, poetischen Cover – Liner Notes stammen von Markus Imboden, früher Trompeter, heute bekannter Krimiregisseur und Studiengangleiter Master of Arts in Film an der ZHdK.

BaumannUrs Blöchlinger Tettet:
Oh, soviel Vieh, Sophie – Urs Blöchlinger: “Neurotica” , rec. 1984. Urs Blöchlinger (ax, fl, & little instruments), Hans Koch (ts, bcl), Ruedi Häusermann (fl, sax & little instruments), Glenn Ferris (tb), Jürg Ammann (p, melodica), Thomas Dürst (b), Dieter Ulrich (dr). 2LP hatArt.
CB: Das ist unser verstorbener Freund Urs. Man hört die Einflüsse, man hört aber auch, wie er sie bricht, wie er damit arbeitet – also typisch europäisch: Man nimmt ein Material, setzt etwas dagegen und dann verarbeitet man, ist eigentlich eine klassische Komponiertechnik und in dem war er ja super. Und man hört dann auch seine Phantasie, seinen Kinderkosmos, wie ein rhythmisches Kindermotiv reinkommt. Und dann ists aber schon wieder vorbei mit der Herrlichkeit und das Ding wird wirklich auseinander genommen und neu zusammengefügt – und das sind dann eigentlich dramatische, dramaturgische Prozesse und man hört einfach diese Spielphantasie, eigentlich von allen … JA: … eine Musik, die nach wie vor gültig ist … CB: … es ist diese Mischung aus Phantasie, Intelligenz, Konsequenz und guten Spielern. Er war auch ein sehr guter Bandleader, der die Chemie in der Band sehr gut organisieren konnte – unglaublich, super!

Christy Doran  –  Fredy StuderStephan Wittwer:
Belluard – Christy Doran: “Red Twist & Tuned Arrow“, rec. 1986. Christy Doran (el. and acoustic g), Fredy Studer (dr, perc.), Stephan Wittwer (el. g, synthes., sequencer programming). LP ECM.
CB: Aha, the guitar in front, supergemachtes Stück, auch heute noch aktuell, damals mit neuen Errungenschaften der Gitarrenmöglichkeiten – dieses komplexe Thema, gefällt mir gut, wie dieses Motiv pam, pam, pam, pam immer wieder kommt und wie eine neue Phase einläutet – sehr gut komponiert und klanglich immer noch aufregend – eine Jahrhundertplatte!

Baumann – Hämmerli – Sextett:
Leiw˚aund Hans – Roland Dahinden: “Adonde Estamos“, rec. 1987. Otmar Kramis (as, bcl), Daniel Schnyder (ss, ts), Roland Dahinden (tb), Christoph Baumann (p), Hämi Hämmerli (b), Guido Parini (dr). LP Unit.
CB:  … beim Klavier kam mir manches bekannt vor aber dann der Posaunist – ist der Dahinden, bei ihm war mir klar, shit, das bin ich ja selber – ist gut gebaut, der Pianist macht keine Schande, setzt seine Mittel gut ein –  lange nicht mehr gehört, eine Musik, die nicht schlecht altert.

BaumannStefan Wirth & Christoph Keller:
Monologe für zwei Klaviere – Bernd Alois Zimmermann, 1964: “Soziale Reflexionen“ – Collegium Novum Zürich, rec. 2010 Tonhalle Zürich. Stefan Wirth, Christoph Keller, Klaviere. CD ab SRF 2.
CB: Das ist komponiert, es klingt zwar machmal wie improvisiert, ist aber so organisiert. Was klar ist, es sind keine Jazzpianisten. Der eine oder die eine Pianistin hat viel Debussy gehört, vielleicht auch ein bisschen Strawinsky, der andere kennt diese Freejazzsachen … Habe gedacht, wenn’s improvisiert wäre, wer könnte das sein, Jacques Demierre … Von wem ists? Von Bernd Alois Zimmermann kenne ich einigermassen gut wirklich nur „Die Soldaten“, habe damals die Aufführung in Basel dreimal gesehen, übrigens mit unserem Freund Jürg Grau, den ich einmal mitgenommen hatte und der dabei völlig ausgeflippt ist, ein Musikenthusiast, der Musik immer sehr intensiv erlebte - es war ja auch eine höllisch gute Aufführung.

BaumannMiles Davis Group:
Konzert-Ausschnitt: “Konzert zwei in Dietlikon“, rec. Stadthalle Dietikon 1971. Miles Davis (tp), Keith Jarrett (fender rh.), Gary Bartz (as),  Michael Henderson (fender b), Leon Chandler (dr), James Forman, Don Alias (perc). CD ab SR.
CB: Ich war damals natürlich auch bei diesen Konzerten in Dietikon. Typisch der Dramaturg, wie es lange geht, bis der Vorhang wirklich aufgeht für den Meister himself und wie sie die Spannung halten mit diesen Elementen … dann dieser typische E–Piano–Rhodes–Sound mit den Schlenkern von Keith Jarrett – ein wahnsinniges Konzert, zu dem Urs und ich hingetrampt sind. Eindrücklich diese Klarheit, wie all diese aktuellen Elemente, die Elektronik, Latinperkussion, Gitarrensounds, die modalen vamps nicht einfach in einem Suppentopf verwurstelt, sondern wirklich dramaturgisch genutzt und eingesetzt wurden. Miles war ein Meister der spannenden Bögen.    

Pierre Boulez:
Sur Incises, 1996/98: “Boulez Sur Incises“, rec. 1999. Soloists of the Ensemble Intercontemporain, Pierre Boulez, Leitung. CD DG.
CB: Ist das Boulez? Ich kenne das Stück nicht, aber interessant, wie hier jemand eine Reflexion über den Barbaro–Stil macht, diese harten Attacken, wie man sie etwa von Bartók und so kennt, und dann gabs aber immer diese Störmomente, die überhaupt nicht in diese Stilistik gehören, dann zum Teil auch eben diese Klangmassen, die da erzeugt werden … , ich dachte, das muss ein Serieller sein, was Du dann auch bestätigt hast. Für mich ist das eine Art Weiterentwicklung von diesem Barbaro–Stil, dieses Vorwärtstreiben war sehr spannend und hat mir sehr gefallen. 

BaumannAgustí Fernandez:
Annalisa – Barry Guy: “Aurora Trio“, rec. 2013. Agusti Fernandez (p), Barry Guy (b), Ramón López (dr). CD Maya Recordings.
CB: … ist auf jeden Fall ein Pianist, der sehr viel klassische Musik hat, aus dem Freejzz kommt, der kompositorisch tätig ist – es ist sehr streng strukturiert, der Aufbau, die Elemente, die wiederkehren, die variiert, die entwickelt werden. Das ist mir irgendwie bekannt, kann es aber nicht genau orten. JA: Es ist ein Freund von Barry Guy, ein Spanier  – Agusti Fernandez … CB: … den kenn ich ja ! Ist ein verrückter Pianist, der hat ja bei allen studiert, den ganzen zeitgenössichen Wahnsinn, der macht im Moment Dinge, auch im Klavier, die phantastisch sind. Auch den Drummer kenn ich, auch ein Spanier, Ramón López, mit dem ich schon gespielt habe und weshalb ich anfangs auf Joachim Kühn kam. Die CD muss ich mir unbedingt anschaffen. 

Beat Furrer:
linea dell’orizzonte, 2012: ”Donaueschinger Musiktage 2012: low – tech, high – tech, mensch – maschine, analog – digital“. ensemble ascolta, Johannes Kalitzke, conductor. 3CD NEOS.
CB: Auch wieder total spannende Musik, definitiv ein zeitgenössischer Komponist, vertraut mit allen Spieltechniken, mit den Orchestermöglichkeiten, mit allen Orchesterfarben, vor allem auch mit der Perkussion - alles wird in ihrer Klanglichkeit, in Registern bis in Rand– und Extremregister eingesetzt. Für mich ist es fast wie ein Klavierkonzert, wobei das Klavier in sehr verschiedenen Funktionen und Farben auftritt. Spannend auch die scheinbare Collagentechnik, die eben überdeckt ist durch diese Prozesse, die darüber hinweggehen, wodurch wirklich neue Dinge, neue Klangereignisse passieren – insgesamt eine sehr starke formale Gestaltung. Wer ists? Beat Furrer, auch einer der ganz Verrückten – Supermusik.

Ludwig van Beethoven:
Grosse Fuge op 133: “Beethoven String Quartets“, rec. 2009. Artemis Quartet. CD Virgin Classics.
JA: Dieses Stück wird meines Wissens relativ selten aufgeführt, ist das Publikum damit überfordert? CB: Ich glaube, diese Fuge ist zu kompliziert, ist sauschwer zum spielen und sauschwer auch zum hören. Beethoven hat damit allen noch einmal gezeigt, dass er das auch kann, wenn’s sein muss … Verrückt ist nur schon diese hochdramatische Eröffnung, die sagt, hallo, jetzt aufgepasst, und dann geht’s einfach los, unglaublich. Und ich finds gut, wenn das aggressiv gespielt wird und die machen das hier, was ich sehr adäquat empfinde, denn das zieht mich wirklich an den Ohren.

Dreimal Player Piano:
1.) Conlon Nancarrow: Study No. 40b für zwei Player Pianos, 1988 – Jürgen Hocker, programming, UA. Donaueschinger Musiktage 1994. 3CD col legno.
2.) György Ligeti: Étude pour Piano No. 14a, 1993, Übertragung von Francis Bowdery, UA. Donaueschinger Musiktage 1994. 3CD col legno.
3.) Jacques Demierre: “Breaking Stone”, rec. 2012. Three Pieces For Player Piano, para bailat, 2012, Jacques Demierre. CD Tzadik.
CB: Lacht, to much! Ich nehme an, das erste war Nancarrow, das Orginal, das letzte könnte von Ligeti sein, bin aber nicht sicher … JA: Er war dabei, es war aber das zweite Stück … CB: … und dann habe ich das letzte gehört, und war beim zweiten nicht mehr sicher – aber eben, dreimal Wahnsinn, unspielbar auf dem normalen Klavier – dieses Medium Player Piano phantastisch ausgenutzt, Grenzen einer Instrumentidee ins Unspielbare weiterführen und das mit diesem primitiven Gerät mit diesen gestanzten Rollen … Wer war denn der letzte? Was, Jacques Demierre, auch ein Wahnsinniger, grossartig, was der alles macht. 

BaumannDieter Ammann:
Core, 2002: “Lucerne Festival Sommer 2010 – Eros“. Lucerne Festival Academy Orchestra, Leitung Pierre Boulez. CD privat.
CB: Hochdramatisch, auch diese Art von zeitgenösschischer Musik, wo das ganze Orchester mit all seinen Möglichkeiten gebraucht und ausgenutzt wird – Zellen, die pulsieren, dann wieder gebrochen werden, harte Bläserunterbrüche und auch spannend, wie gewisse Orchestergruppen sich durch das Ganze hindurch im Register ändern, sehr komplex organisierte Musik. Ich glaub sogar, ich kenn das Stück … JA: … ist ja auch ein Dozenten– Kollege von Dir … CD: … dann muss es der Dieter sein. Etwas verräterisch waren diese pulsierenden Stellen … Ist ja das Stück, das 2010 in Luzern aufgeführt wurde, nur knapp 10 Minuten ist und eigentlich viel länger hätte sein sollen. Aber diese 8 Minuten waren dicht, ein Hammerstück!

Herbie Hancock:
V – Wayne Shorter: “Festival jazz baltica“ Salzau 2004. Herbie Hancock (p), Wayner Shorter (ts, ss), Dave Holland (b), Brian Blade (dr). CD ab 3sat.
CB: Eine der guten Bands, die immer noch oder wieder existieren, aber eine etwas andere Besetzung … JA: … Dave Holland am Bass … CB: … was mich etwas irritierte, denn es klang nicht wie der Patitucci. – Jazz at its best, genau so müsste jazz heute klingen Es sind für mich drei zentrale Aspekte in dieser Musik hervorzuheben sind: Erstens es ist einer der grossen Komponisten, obwohl sie die Stücke nicht mehr als Stücke spielen, sondern als Material, was schon das Zweite ist, die einzig adäquate Fortsetzung in diesem Genre des Jazzbereichs des Miles Davis Quintet, angereichert mit dieser permanenten Pylyphonie, alle vier Stimmen sind stets gleichberechtigt, eine phantastische Idee, wie das funktioniert, wobei mich wie gesagt der Bassist hier etwas irritiert hat, der im Gegensatz zu Patitucca hier mehr Service macht. Normalerweise läuft ja vieles auch über den Pianisten Danilo Perez – hier nicht dabei –, der sich von einem Latinjazzpianisten zu einem ganz verrückten zeitgenössischen Pianisten entwickelt hat. Und das der Herbie hier so frei spielt, hat mich auch einen Moment lang irritiert. Aber grossartig wie dieses Konzept funktioniert und umgesetzt ist, auch mit den kleinen Besetzungsänderungen; die Altmeister zeigen es wieder mal allen wie es geht – phantastisch!

BaumannGalina Ustvolskaya:
Sonata No. 6, 1988: „Galina Ustvolskaya – Piano Sonatas“, rec. 1998. Markus Hinterhäuser (p). CD col legno.
CB: Ist das diese russische Komponistin? Ich habe schon Sachen von ihr gehört, die mir gar nicht gefallen haben. Aber das hier in sich, das macht Sinn. Sie schreibt ja wie holzschnittartige Kompositionen, zeitgenössische Musik, aber sehr entdichtet, es laufen keine Ebenen übereinander, ist sehr stark getrennt, aber diese ganze Dramatik zeitgenössischer Musik ist da, dieses Gemeisselte, Radikale, Unerbittliche, das gefällt mir.

Banda Cittá Ruvo Di Puglia:
Una Serenata, Lucilla Galeazzi: ”La Banda”, Donaueschinger Musiktage 1996. ”Banda and Jazz”: Banda Cittá Ruvo Di Puglia, Bruno Tommaso, Director, Lucilla Galezzi (voc), Michel Godard (tba), Jean-Louis Matinier (acc), Willem Breuker (bcl). 2CD ENJA:
CB: Wunderbare Stimme, die ich kenne – ist das Lucilla Galeazzi? Ich habe ein sehr heikles Verhältnis zu Gesang, vor allem zu Sängerinnen, das Meiste ertrage ich schlecht, auch im Jazz, ich habe sehr gerne gewisse Popstimmen, also quasi diese natürlichen Stimmen … Was mir hier gefällt, ist dieses natürliche Timbre und trotzdem diese Kultiviertheit. Aber es ist kein Opernpathos, überhaupt kein Pathos, sondern eine wunderbar natürliche Stimme, die aber fähig ist, im Feinbereich zu gestalten; das finde ich phantastisch. Und diese ganze Organisation um dieses Lied herum ist sehr gut gemacht. JA: Du hast doch mal mit ihr gearbeitet, wie bist Du auf sie gekommen? CB: Es war der Wunsch von Dieter Bachmann für das Stummfilm – Livemusik – Projekt “pane per tutti“, intuitive Bildreflexionen über Rom mit dem grandiosen Kameramann Pio Corradi und der Musik von Jacques Siron und mir mit den weiteren Mitspielern Gianluigi Trovesi und Dieter Ulrich.    

Duke Ellington:
A Tone Parallel To Harlem – The Harem Suite, Duke Ellington: “Ellington Uptown”, rec. 1951. Duke Ellington Orchestra. CD CBS.
CB: Hier kommt der grosse Klangfarbenreichtum von Ellington besonders gut zur Geltung, wunderbar zum Hören. Da kann man nur sagen, er gehört zu den zehn grossen Komponisten des letzten Jahrhunderts und phantastisch bei dieser Aufnahme, dass man zentrale Aspekte hört wie er gearbeitet hat, dieser Reichtum an Klangfarben, diese extremen Register und vor allem, was kein europäischer Komponist vor ihm gemacht hat, dieses Einsetzen der Personalstile der Musiker, sie sind Teil der Instrumentation, Teil der Dramaturgie. Das ist absolute Meisterschaft.

Antonello Salis:
Salismaninoff, Antonello Salis: ”piano solo”, rec. 2005. Antonello Salis (p and prepared piano). CD CamJazz.
CB: Das muss ein Pianist aus der heutigen Zeit sein, er hat alles, was es gibt zur Verfügung und er kann es sinnvoll zusammenbringen, virtuos, aber nicht leere Virtuosität, sondern er ist auch Komponist, kann kompositorisch denken – gutes zeitgenössisches Piano ohne postmoderne Beliebigkeit, souveräne Pianistik.

Ensemble Modern plays Frank Zappa:
The Beltway Bandits, Frank Zappa: “Ensemble Modern plays Frank Zappa“, rec. 2002. Ensemble Modern, Leitung Jonathan Stockhammer, transcriptions Ali N. Askin. CD BMG.
CB: Es tönt wie Spätwerk Frank Zappa, einfach dieser melodische Wahnsinn; was ich vermisst habe, sind die obligaten Quint – und Septolen, die kamen nicht, aber sonst die ganze Art, wie die Stimmen gesetzt sind, die melodische Kontur, das ist Zappa.

BaumannYannick Délez:
Solar, Miles Davis: “Yannik Délez Piano Solo –  Boréales“, rec. 2010. Yannick Délez (p). CD Unit.
CB: Der Titel ist ja klar – Solar von Miles. Der Meister himself, er war schon vor vierzig Jahren super, wurde immer besser, man hält es nicht für möglich; was hier faszinierend ist, ist diese Freiheit, die dieser Pianist erreicht hat, linke Hand, rechte Hand, er kann hin wo er will, er kann die sattesten Grooves spielen und gleich wieder weg, freie Agogik und schon ist er wieder drin und dann wie er es schafft, diese ganzen Bewegungen plus die Liegetöne – er hat ja sehr kleine Hände … JA: … wen meinst Du jetzt? CB: … Keith – ist das nicht Keith Jarrett? Da liege ich also völlig falsch. Aber phantastisch, auch wie die linke Hans arbeitet …  JA: … das ist ein welscher Pianist aus dem Wallis, der Yannick Délez heisst … CB: … der aber viel Jarrett gehört hat, noch mehr geübt hat – alle Ingredienzien von Jarrett sind auch hier da, aber noch schneller, höher. Was sehr spannend ist, ist diese Pianistik, wie er dieses Gewebe aufrecht erhalten kann  – unglaublich.

Thomas Kessler:
What happens to a society, 2003, Thomas Kessler, Saul Williams: “, said the shotgun to the head“ für Poetry–Sprecher, Rap–Chor und Orchester, rec. 2006. Saul Williams, Dichter und Poetry–Sprecher, Sinfonieorchester Basel, Marko Letonja, Leitung. CD Musiques Suisses, Grammont Portrait.
CB: Thomas Kessler, dieses Stück … Wahnsinn!; was mir hier gefällt ist, dass hier zwei Welten, die eigentlich nicht zusammengehören, aufeinanderprallen, gekonnt aufeinanderprallen, die quasi klassische Orchestersprache und diese rapartige Poetry, und dann, was für mich interessant ist, dass er hier eine alte Form neu aufgiesst nämlich die Form des Melodrams; ich weiss nicht, ob das so gedacht war. Hier passiert etwas, das für mich ideal ist, wenn gewisse sich fremde Dinge zusammentun, die sich gegenseitig aufladen – unglaublich gut gemacht. Der Kessler ist ja ein verrückter Typ, Elektroniker der ersten Stunde, der mit all diesen Typen – Pink Floyd, Kraftwerk – rumgehangen und ist eigentlich ein zeitgenössischer Komponist vom Feinsten.

Christoph, herzlichen Dank für Deinen Besuch.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 2/2014, März/April 2014 (für die gedruckte Kurzfassung)
Text und Fotos © Johannes Anders (Langfassung für Website)

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