Johannes Anders
Musik - Journalist

KAREL BOESCHOTEN

 Von Johannes Anders

Karel BoeschotenDer Niederländer Karel Boeschoten (50) erwarb das geigerische Handwerk bei den Altmeistern Herman Krebbers (Amsterdam) und Igor Ozim (Köln). Er war Mitglied des Concertgebouw Orkest Amsterdam und der Camerata Bern, 2004 Konzertmeister beim Orchestra Filarmonica della Scala di Milano. Er pflegt die Tradition des spontanen Musizierens, die ihn auch zur Improvisation führte. Europaweite Auftritte mit dem European Chaos String Quintet. Boeschoten schrieb mehrere Solowerke für Violine; sein Violinkonzert wurde 2001 in Holland uraufgeführt, die „Suite Extravanganza“ 2002 in Boswil. Seine grosse Offenheit machte ihn zum begehrten Spezialisten für Crossover-Projekte und zu einem gefragten Performer. Mit Pierre Favre musizierte er am Lucerne Festival, mit Stephan Eicher am Jazz Festival Montreux. Zusammenarbeit aber auch mit Johannes Bauer, Mark Dresser, Fred Frith, Fritz Hauser, Hans Koch, Lauren Newton, Lucas Niggli, Burhan Öcal, Matthias Ziegler u.a.  Von rumänischer Volksmusik inspiriert, verbindet er zusammen mit Marius Ungureanu und dem Ensemble "Drum" Klassik, Improvisation und Osteuropäische Musik. Mit „Kalandos“ setzt sich er sich kreativ mit ungarischer Volks- und Zigeunermusik auseinander. Seit November 2005 tritt Boeschoten mit dem neuen Programm „Die Wohltemperierte Violine“ auf, ein facettenreicher Rückblick auf seine ereignisreiche musikalische Laufbahn.


STÉPHANE GRAPPELLI 1966, 1980, 1995:

1.)  HOW HIGH THE MOON ("Violin Summit Basel 1966", St.G., viol., Kenny Drew, p,  

N.H. Ørsted Pedersen, b, Alex Riehl, dr. Aufn. Schweizer Radio).

2.)  ET SI L'ON IMPROVISAIT? ("Happy Reunion", rec. 1980, St.G., Martial Solal, p. Owl-  

CD).

3.)  I GOT RHYTHM ("Flamingo", rec. 1995, St.G., Michel Petrucciani, p, George Mraz, b, Roy Haynes, dr. Dreyfus-CD).

KB: (Reagiert bei 1 sofort:) Das ist ein Grosser! (lacht) juhu, juhu, toll, rhythmisch stark und sehr gute Intonation. (Bei 2:) Ist das tatsächlich der gleiche Geiger? JA: Ja, aber das ist was ganz Besonderes, denn normalerweise improvisiert er nicht völlig frei. KB: Sehr interessant, schöne Phrasierungen, schönes Vibrato, ein fast klassischer Klang. Am Anfang habe ich natürlich an Grappelli gedacht, aber die 2 hat mich verunsichert … Eine sehr gute Band bei 3; auch hier sehr schöner Klang. Übrigens, egal bei welchem Stil, man hört immer sofort, ob jemand Klasse hat.


J. S. BACH: CHACONNE

aus der Partita Nr. 2 für Solo-Violine, d-moll, BWV 1004:

1.) GEORG BÜCHNER *1924 ("Violine mit dem Rundbogen", rec. 60er Jahre. CALIG-LP).

2.) GIDON KREMER *1947 ("The Sonatas and Partitas for Violin Solo", rec. 2002. ECM New Series-CD).

3.) BAIBA SKRIDE *1981 ("Bach, Bartók, Ysaÿe", rec. 2004. Sony-Classical-CD).

Karel Boeschoten KB: Der oder die erste ist ein sehr kultivierter Geiger, spielt mir dem Rundbogen, jedoch auf einer neuen Geige, ist eine ältere Aufnahme, deshalb vom Klang her nicht so genau zu beurteilen. Das dritte Beispiel wirkt sehr brav, gut gemeint, ist aber vom Ton her nicht sehr interessant und nicht immer ganz sauber intoniert. Der zweite ist Kremer und mit Abstand der Beste. Ist mir zum Teil etwas zu brutal, zu rhythmisiert, aber er hat wie immer eine Idee und drückt das aus, was er sich vorstellt und das finde ich sehr sympathisch. Er ist ein Kämpfer, der lebenslang auf der Suche ist und hier eine völlig neue, ganz eigene Begegnung mit dieser Musik vermittelt und das bewundere ich an ihm. 


FRED FRITH / STEVIE WISHART / CARLA KIHLSTEDT:

TIME COMES PRESTO ("The Compass, Log And Lead", rec. 2003, F. Frith, g, Carla Kihlstedt, viol., Stevie Wishart, hurdy-gurdy, electr. Intakt-CD).

KB: (Lacht …) – super, sehr gut, sehr interessant, eine Art Marihuana-Geige, wie eine Doina, eine Mischung aus frech und gemacht, gefällt mir sehr als Idee, orginell, wunderbar, etwas Eigenes, stoned music …


BRUNO MADERNA (1920-1973):

GIARDINO RELIGIOSO / 1972 ("Orchestral Works", rec. 1990, Auszug, Netherlands Radio Chamber Orch., Hans Zehnder. Col legno-CD).

KB: Gute Musik und interessante Besetzung - mit Harfe … Ist das Maderna? Eine unglaubliche Wärme in dieser Musik und welches Geflecht – Maderna war ein Genie ! Es wird von Jazzern zur Zeit sehr viel komponiert, aber die sollten sich das mal  anhören, denn hier sind Jazzelemente drin, es ist frech und swingt und jedes Instrument wird voll ausgenutzt. Die aus der Jazzszene, die heute für Streicher komponieren, schreiben dermassen langweilig - long lines-Akkorde -, dass es nicht zum Aushalten ist. Dieses Stück sollte Pflicht und Gehörlektüre an Jazzschulen sein, denn hier hört man, was man anders machen kann, wie produktiv Wechselwirkungen zwischen Klassik und Jazz sein können.


DIDIER LOCKWOOD 1994, 1995, 2003:

1.) LAURITA ("Laurita", rec. 1994, D. Lockwood, viol, Richard Galliano, acc, Palle Danielsson, b, Joey Baron, dr. Dreyfus-CD).

2.) ANATOLE BLUES ("New York Rendez-Vous", rec. 1995, D. L., Dave Liebman, sax, Dave Kikoski, p, Dave Holland, b, Peter Erskine, dr. JMS-CD).

3.) SOMEWHERE AT EAST (""Globe-Trotter", rec. 2003, D. Lockwood Quartet. EmArcy- CD).

KB: (Bei 1:) Yeah, super (lacht …), ganz heiss, ein ausgezeichneter Geiger. Dachte zuerst, es ist einer aus der Klassik, wegen der ausgefeilten Technik. Auch in der Form ist 1 gelungen. Aber schade, in Nr. 2 und besonders 3, wie der Ton verstärkt, fast verfremdet ist, es fehlen mir die Momente des Klangs und es ist mir alles zu schnell, und bei 3 trotz der bulgarischen Anklänge fast zu kitschig, zuviel Unisono - die haben das bis zum Geht-nicht-mehr einstudiert, zuviel Technik, ist mir zuwenig improvisiert, zuwenig instant composing.


ANNE SOPHIE MUTTER (*1963) / WITOLD LUTOSLAWSKI (1913-1994):

CHAIN 2 - 1984/85, 1. SATZ ("Anne Sophie Mutter Modern", rec.1988, A. S. Mutter, viol., BBC Symph. Orch., W. Lutoslawski. Universal-3CD).

KB: Das ist grosse Kunst, super gespielt. Auch hier wird Karel Boeschoten schnell gespielt, aber die Töne sind am richtigen Ort und es ist ein Ton da. Der oder die hat geübt, das hört man. Schöne Aufnahme, ganz toll. Wenn es nicht Zehetmair ist, dann ist es jedenfalls die Richtung, die Kremer vorgegeben hat, unwahrscheinlich differenziert, spärlicher Umgang mit dem Vibrato … Wer ist es ? - Eigentlich bin ich kein Mutter-Fan, aber das hier ist grossartig.


DIETER AMMANN (*1962):

APRÈS LE SILENCE 2004/05 (Lucerne Festival Sommer 2005 "Neuland", Debut 1, rec, 23.8.05, Lukaskirche, Auszug. Tecchler Trio: Esther Hoppe, viol, Maximilian Hornung, violoncello, Benjamin Engeli, p. Live-Aufn. SR DRS2).

KB: Da ist einiges drin, das improvisierten Charakter hat, andererseits wirkt es formal wie durchkomponiert. Teilweise ist es mir etwas zu maschinell …, ist sicher ein bekannter Komponist, sehr perkussiv, aber es macht mich nur da an, wo es improvisiert wirkt. Sehr gutes Ensemble, super gespielt, vielleicht das Ensemble Intercontemporain unter Boulez? … JA: Nein, der Pianist wohnt in Bassersdorf … KB: Dann ists der Beni Engeli - wirklich ? Ich kenne ihn sehr gut, habe schon mit ihm gespielt … (auf meiner neuesten CD interpretiere ich mit ihm eine Komposition von Ernest Bloch).


BARRY GUY (*1947):

ORTIZ I ("Folio", rec. 2005, Auszug, Maya Homburger, baroque violin, Muriel Cantoreggi, viol, B. Guy, b, Münchner Kammerorchester, Christoph Poppen. ECM New Series-CD).

KB: Sehr interessante Musik, in den offensichtlich freien Komplexen an Cage erinnernd; ich höre da verschiedene Einflüsse, etwa Bartok-Ähnliches … Besonders die freien Teile gefallen mir, allerdings nicht alles, manches empfinde ich als etwas plakativ. Vor allem den Schlussteil dieses Auszugs finde ich gut, die Geigen in den hohen Lagen und als Kontrast dazu die tiefe Orchesterbegleitung. Eine sehr gelungene, sehr spannende Sache.


GYÖRGY KURTÁG (*1926):

LIGATURA – QUARTETTO PER ARCHI ("Musik für Streichinstrumente", rec. 1995, Auszug, Keller Quartett. ECM New Series-CD).

KB: Sehr gut geschriebene Musik, zuerst dieser Choral und Cantus firmus …, sehr konsequent durchgezogen, das zweite Stück lässt an einen "Darmstädter" wie Ligeti denken, super gemacht, tolle zeitgenössische Musik. 


L'ALBANIE FOLKLORIQUE:

CABA DU VIOLON ("Marcel Cellier presente:", Groupe Artistique De L'Armée, Ethem Querimi, violon. Disques Cellier-LP).

KB: Das begann wie eine indische Improvisation, dann wurde es quasi bulgarisch-rumänisch, wirkt aber nur teilweise authentisch, auch wegen des Arrangements für grosses Orchester. Aber vom Geigerischen her gefällts mir, vor allem am Anfang.


VICTORIA MULOVA:

1.)  WALK BETWEEN THE RAINDROPS ("Throu The Looking Glass", rec. 1999, V. Mulova, viol, Julian Joseph, p. Philips-CD).

2.)  ROBOT 415 ORGINAL ( wie Nr. 1, V. Mulova, violin solo.)

3.)  PART 1 ("Thieves And Poets", rec. 2002, Auszug, John McLaughlin & Orch., V. Mulova, viol. Verve-CD).

KB: Hochinteressant – ist ganz klar ein klassisch ausgebildeter Geiger oder Geigerin, was man besonders bei 2 merkt. Bei 1 klingt es, wo es um Rhythmisches und Swing geht, ein bisschen steif. In 3 merkt man, dass es ein Supergeiger ist; es gibt ja heute einige, die so etwas machen, Nigel Kennedy zum Beispiel, er ists aber nicht, ist zu gut für ihn.


EUGÈNE YSAŸE (1858-1931):

SONATE No.2, a-moll, op.27/1, 1. Satz Obsession

1.) GIDON KREMER ("Eugène Ysaÿe – Die 6 Sonaten für Violine solo", rec. 1976, G. Kremer, viol. Eurodisc-Melodia-LP).

2.) THOMAS ZEHETMAYR ("Eugène Ysaÿe – Sonatas pour violon solo", rec. 2002. ECM New Series-CD).

KB: Ist natürlich Ysaÿe, der hier auf einen Satz aus Bachs Partita Nr.3 Bezug nimmt. Die Zweite ist völlig anders, hier wird mehr Zeit genommen, gibt es grössere dynamische Unterschiede, auch mehr Ruhepunkte, sie ist mehr zeitgenössisch. Aber auch die erste ist verdammt gut gespielt, sehr fliessend und durchgehend, sehr virtuos, top, sehr clean, klingt wie Frank Peter Zimmermann, kanns aber vom Zeitunterschied nicht sein – liegt wohl etwa 30 Jahre zurück …, aber beides Top-Aufnahmen.


NUAGES (Django Reinhard, 1940):

1.)  STÉPHANE GRAPPELLI ("Happy Reunion", rec. 1980, St. G., viol., Martial Solal, p. Owl-CD).

2.)  DIDIER LOCKWOOD ("Tribut To Stéphane Grapelli", rec. 1999, St. G., Biréli Lagrène, g, N. H. Orsted Pedersen, b. Dreyfus-CD).

KB: Beide sind hervorragend, bei 2 guter Gitarrist, ist eine vergleichbare Situation wie bei Bach/Ysaÿe. Der erste war glaub ich Grappelli, der hier sehr intim spielte, sehr touching, mit ganz wunderbarem Klang, der mir vorher so nicht bewusst war. Der 2. war viel freier, verspielter, auch witziger. Aber beides grosse Geiger mit sehr gutem Sound.


K. A. HARTMANN (1905-1963):

CONCERTO FUNEBRE (1939), für Solo-Violine und Streichorchester, 3. Satz Allegro di molto.

1.)  THOMAS ZEHETMAYR ("Violin Concertos Berg, Janáček, Hartmann", rec. 1991, Deutsche Kammerphilharmonie, T. Zehetmair, viol. & cond. Teldec-CD).

2.)  ISABELLE FAUST ("Karl Amadeus Hartmann – Funèbre", rec. 1999, Münchner Kammerorch., Christoph Poppen, I. Faust, viol. ECM New Series-CD).

KB.: Hartmann mit Concerto Funebre, habe das Stück auch gespielt. Ist der Erste Zehetmair ? Ok, sehr gut. Die zweite Aufnahme gefällt mir vom Klang und auch vom Orchester her aber viel besser, ungemein intensiv und als Ganzes spannender, halten sich ans Tempo, obwohl das sackschwer ist und an die Grenze des Machbaren reicht - hervorragend.


MILES DAVIS QUINTET:

STELLA BY STARLIGHT ("The Compete Concert 1964", M. Davis, G. Coleman, H. Hancock, R. Carter, T. Williams. Columbia-2CD).

KB: Ist das Altmeister Miles ? – für mich ein Beispiel, wie wahnsinnig toll Jazz sein kann, er phrasiert so frei und ist so erzählend und sein Sound ist einfach einzigartig und man hört sofort, das ist er, so wie man z.B. die Callas erkennt. Und er macht keinen überflüssigen Ton und wenn er doch mal loslegt, macht es einen Sinn, nicht so wie das durchgehende Gefidel beispielsweise von Ponty, das mich irgendwann wahnsinnig macht. Und er hat Supermusiker um sich herum, die ihn voll unterstützen.

Karel, herzlichen Dank fürs Mitmachen.

Soeben erschienen: Karel Boeschoten: "Die wohltemperierte Violine", Bloch, Boeschoten, Debussy, De Falla, Kroll, Massenet -  Solos, Duos, Improvisations, Orchester - live. (TonArt 9630 / musi.kaas@bluewin.ch / www.karelboeschoten.com )




 © JAZZ 'N' MORE Nr.1/2006
© Fotos: Peewee Windmüller

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