Johannes Anders
Musik - Journalist

T O B I A S  P R E I S I G

Text und Foto:
Johannes Anders

Tobias Preisig1981 in Zürich geboren, studierte er an der Swiss Jazz School in Bern und der New School in New York. 2004 Gründung seines eigenen Quartetts und erste CD "Chapter One". 2004 bis 2007 Studium an der "Hochschule für Musik und Theater" in Zürich. 2005 Kulturförderpreis des Kantons Appenzell für ein Sologeigenprojekt. Konzerte und Zusammenarbeit mit "Kaleidoscope String Quartet", George Gruntz, Luciano Biondini, Thomas Demenga, Daniel Schnyder u.a. 2008 spielte Preisig am Montreux Jazz Festival und am Jazz Festival Willisau. 2009 war er Solist beim Jazzaar und trat mit George Gruntz am Menuhin Festival in Gstaad auf. Es folgte eine Duo CD mit George Gruntz für das Label „TCB“ mit David Liebman als Gast. Im Herbst 2009 „Artist in Residence“ im Moods in Zürich. Im April 2010 veröffentlichte Tobias Preisig mit seinem Quartett die Debut CD "Flowing Mood" auf dem New Yorker Label ObliqSound. 2011 gab er Konzerte an wichtigen Festivals wie Cully Jazzfestival, Schaffhausen Jazzfestival und Basel Off Beat. Im März 2011 tourt er mit Dieter Meier durch Deutschland und tritt im Duo mit dem Stimmakrobaten Christian Zehnder auf.       

Tobias PreisigSTUFF SMITH (1909-1967):
AIN’T MISBEHAVIN’ - Fats Waller (“Jazz in der Aula“, Baden, rec. 1965. Stuff Smith, viol., voc., Henri Chaix, p, Wallace Bishop, dr. Radio Beromünster 1965).
TP: Lacht - sehr schön, gefällt mir sehr, sehr gut. Ist das Stuff Smith? Was ich hier sehr schätze: sein Sound ist unglaublich warm und doch hats was sehr Perkussives. Er war der erste, der die Geige verstärkt hat, wobei ich nicht 100%-ig sicher bin, ob er das hier auch gemacht hat aber ich glaube schon, denn das hier ist sein typischer Stuff-Smith-Sound. Unglaublich auch die schönen Linien – hat er auch gesungen? JA: Ja, das war auch er. TP: Was ich noch spannend fand, war die Parallele zwischen dem Gesang und der Geige, zwischen dem Geschichtenerzähler als Geiger und dem Geschichtenerzähler als Sänger. Auch im Gesang hat er das Rauhe und trotzdem sehr Warme. Und das Phrasing – er spielt so schön laid-back und so singt er auch. JA: Die Aufnahme war übrigens von einem Radiomitschnitt eines Konzerts aus der von Arild Wideröe damals veranstalteten Reihe „Jazz in der Aula“ von 1965.

GIDON KREMER, KEITH JARRETT (*1947, *1945):
FRATRES - A. Pärt (“Arvo Pärt - Tabula Rasa“, rec. 1983. G. Kremer, viol., K. Jarrett, p. ECM-LP).
JA: Sollen wir aussteigen, das Stück ist 12 Minuten lang und bei langen Stücken programmiere ich gern gezielt Ausschnitte, weil unser Meeting sonst zulang dauern würde… TP: …warten wir noch auf den nächsten Abschnitt, ob da was Wilderes kommt… JA: Wir sind jetzt ungefähr in der Mitte … TP: …ja, jetzt wird’s haevy, hui… War das Arvo Pärt? “Fratres“ heisst das glaube ich und war das mit Kremer?. Auch das gefällt mir sehr, ich kenne die Aufnahme. Auch hier gefällt mir der Geigensound und es ist auch sehr schön aufgenommen. Was mir hier wirklich gefällt ist, dass er die Unterschiede zwischen dem Brachialen und dem Zerbrechlichen auch zeigt, das Brachiale spielt er auch brachial, auch angerissen, ohne Angst, den Klang zu verlieren, wie es wahrscheinlich viele Klassiker haben könnten. Und dann spielt er das Zerbrechliche wieder extrem zerbechlich. Mir gefällt  das wirklich, auch der Unterschied zwischen dem Mystischen und Poetischen und zugleich manchmal wieder Kindlichem…  JA: Und das Klavier… TP: … ist das die Argerich? JA: Nein, es ist Keith Jarrett. TP: Ja, stimmt, aber das hätte ich hier nie rausgehört, denn in diesem Kontext kenne ich ihn nicht so gut.

Tobias PreisigALBERT AYLER (1936-1970):
BELLS - A. Ayler („Albert Ayler Lörrach Paris“, J. E. Berendts SWF-Jazzsession in Lörrach, rec. 1966. A. Ayler, ts, Don Ayler, tp, Michel Sampson, viol., William Folwell, b, Beaver Harris, dr. hatART-CD).
TP: Lacht…, war das Ornette? JA: Nein, Ornette an der Geige klingt glaube auch archaisch, aber mit mehr Ausdruck… TP: Das Spannende ist hier, wie unglaublich radikal hier die Geige gespielt wird, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf Technik wird hier drauflos geraspelt - hat aber irgendwie Charme. Man merkt aber dann doch, dass nicht viel mehr passiert, was vielleicht auch am Stück liegt. Es gefällt mir nicht wirklich, aber die Trompete finde ich Wahnsinn, mit ähnlicher Radikalität, aber mit mehr Potential dahinter.

VIKTORIA MULLOVA (*1959):
WALK BETWEEN THE RAINDROPS - D. Fagen („“Through The Looking Glass“, rec. 1999. V. Mullova, viol., Julian Joseph, p. Philips-CD).
TP: Lacht, lacht… – klingt sehr nach einem Topklassiker, der Jazz spielt… JA: … stimmt genau, aber gut gespielt…TP: …sehr gut gespielt, doch es swingt nicht wirklich, aber sehr witzig, sehr verspielt, sehr gut gemacht.  

DIDIER LOCKWOOD (*1956):
ANATOLE BLUES - D. Lockwod (“New York Rendez-Vous“, rec. 1995. D. Lockwood, viol., David Liebman, ss, Dave Kikoski, p, Dave Holland, b, Peter Erskine, dr. JMS-CD).
TP: Das war Didier Lockwood und der tolle Einstieg muss mit Dave Liebman gewesen sein. Lockwood ist einfach der König der Postbopgeige, dieses Schnelle, die Superphrasierung. Mir gefällt er allerdings nicht, wenn er so schnell spielt, ich finds viel, viel schöner, wenn er Balladen spielt, was er herrlich macht. Bei den schnellen Sachen höre ich immer etwas die selben Linien und der Sound ist mir generell ein bisschen zu unterkühlt. Demgegenüber ist Dave Liebman etwas weiter mit seinem Vokabular.  

Tobias PreisigSTREICHQUARTETTE Teil 1
1.) ARTEMIS QUARTET: “Ligeti – artemis“, rec. 1999. György Ligeti (1923-2006): String Quartet No. 1, 1954/54, 8. Satz. (EMI-Virgin Classics-CD
2.) ARDITTI QUARTET: „Donaueschinger Musikitage 2006“. Saed Haddad (*1972): Joie voilée, 2005/06, Satz 12.+13. (NEOS-CD).
3.) KLANGFORUM WIEN STREICHQUARTETT: “Inventionen“, Festival Berlin 2004. Wolfgang Mitterer (*1958): String Quartet 1-3, Ausschnitt. + Wolfgang Mitterer, Keyboards, Elektronik, Samples. (Privat-CD). 
4.) CASAL QUARTET: “DIETER AMMANN“: D. Ammann (*1961): Geborstener Satz / Streichquartett Nr. 1, 2003, rec. 2010. (Musiques Suisse-CD).
JA: Weil du ja auch mit dem Streichquartett “Kaleidoskop“ auftrittst, hier eine erste Auswahl mit Beispielen von vier verschiedenen Streichquartetten. TP: Bei Aufnahme 1 hat mir das kompromisslose Zusammenspiel gefallen, es hat etwas Bauchiges, Grooviges gehabt. Bei 2 habe ich das irgendwie vermisst, was vielleicht an der Aufnahme liegt, die irgendwie etwas weit weg aufgenommen klang – und die Spieler spielen nicht so relaxt, eher etwas angestrengt. Bei allen vieren habe ich gemerkt, dass ich bei diesen Dingen sehr sensibel bin, ob es von weit weg oder von nah aufgenommen wirkt. Bei 3 hat es das wieder gehabt, dieses vitale Zusammenspiel, und es hat sich angefühlt, als sei viel improvisiert. JA: Der Komponist von 3 ist bekannt, dass er in beiden Lagern zuhause ist, der Neuen Musik und der Improvisation und hier hat es sicher improvisatorische Komplexe. TP: Und 3 ist extrem nah aufgenommen und das war wirklich spannend und klang total anders. Und das fand ich sehr, sehr reizvoll, auch dass hier offensichtlich ergänzend mit Elektronik gearbeitet wurde. Die 4 fand ich auch toll, war aber wieder etwas weiter weg, hat mich auch nicht speziell angesprungen und es gab dabei für mich nichts besonders Auffälliges, sie hat mir aber besser gefallen, als die 2. Alle vier fand ich jedoch sehr toll.   

VIOLIN SUMMIT
PENTUPHOUSE*** - S. Rollins („Violin Summit“, SWF/SRG, Präsentation J. E.Berendt, rec. Basel Fauteuil, 30.9.1966.  Svend Asmussen, Stuff Smith, Stéphane Grapelli***, Jean-Luc Ponty***, viol., Kenny Drew, p, N.-H. Ørsted Pedersen, b, Alex Riel, dr. Privat-CD).
TP: Das war der Violin Summit in Basel und der zweite Geiger war Ponty; beim ersten bin ich nicht sicher, ob es Svend Asmussen oder Grapelli war, aber wahrscheinlich doch Grapelli, von dem ich sehr viel halte. Er hat hier aber etwas Untypisches… JA: … weil er sich wahrscheinlich durch die prominenten Kollegen und auch die moderne Rhythm Section herausgefordert fühlte. TP: Ponty spielt hier unglaublich frech, das finde ich super. So einen Violin Summit müsste man heute eigentlich wieder mal organisieren, mit denen, die momentan aktuell sind, das wäre geil.

Tobias PreisigHEINZ HOLLIGER (*1939):
VIOLINKONZERT (1993/95/2002), 1. Satz (“Heinz Holliger I Thomas Zehetmair I Violinkonzert I SWR Sinfonieorchester“, rec. 2002. T. Zehetmair, Violine, SWR SO, H. Holliger, Leitung. ECM New Series-CD).
TP: Was mir hier gefällt, sind die unglaublichen Klangfarben, der ganze Anfang mit den Gongs, dem Geflirre, den Soundteppichen, aus denen die Geige dann plötzlich rausschiesst, sich wieder einfügt und wieder rausspringt… Was ich ein bisschen schade finde ist, aber das ist natürlich Geschmackssache, dass die Geige oft etwas lauter sein könnte, wenn sie dann rausschiesst, damit sie dann richtig rauskommt, was ich soundtechnisch spannender fände. JA: Am Ergebnis hat neben dem Produzenten vermutlich auch der Komponist mitgewirkt. TP: (Nach Info) Ich habe eine CD des Zehetmair-Streichquartetts mit Schumann, was mir unglaublich gut gefällt, auch weil es sehr nah aufgenommen ist; man hört all die Bogengeräusche, das Atmen und was auch spannend ist, das Quartett spielt oft auswendig.    

VIOLIN & DOUBLE BASS
1.) MAYA HOMBURGER & BARRY GUY: IMMEASURABLE SKY - B. Guy.  (“Ceremony“, rec. 1997. M. Hamburger, baroque viol., Barry Guy, b. ECM New Series-CD). 
2.) ANNE-SOPHIE MUTTER & ROMAN PATKOLÓ: DUO CONCERTANTE – K. Penderecki, 2010. A.-S- Mutter, viol., Roman Patkoló,  double bass, rec. 2011 (“Anne-Sophie Mutter I Rihm I Currier I New York Philharmonic”. DG/Universal-CD).
3.) TIME MACHINES III 2007 - S. CURRIER*** - *1959, rec. 2011. Anne-Sophie Mutter &. New York Philharmonic, Alan Gilbert. (CD wie 2.).
TP: (Zu 1:) Spannende Aufnahme, der Kontrabassist wieder weit aufgenommen - ich dachte zuerst, es sei ein Jazzbassist - , aber dann kommt die absolut moderne klassische Geige rein und das Stück wirkt komponiert und dann kommt wieder der Bass, der irgendwie an Jazz erinnert… JA: … ist auch ein Jazzbassist, allerdings einer, der beides macht, Improvisation und Komposition… TP: …was ich spannend finde. Bei der Geige habe ich allerdings nichts Spezielles raushören können. JA: Merkt man, dass das eine Barockvioline ist… TP: … jetzt, wo dus sagst - ich dachte der etwas dunklere Klang habe etwas mit der Aufnahmen zutun. Es gefällt mir, hat einen starken Charme… (Zu 2:) JA: Von einer soeben erschienenen CD… TP: Können wir noch ein zweites Stück der CD hören? JA: Ja diesmal mit Orchester… TP: Frage, hat der Geiger das Stück selbst komponiert? Nein, man hat wirklich den Eindruck, vor allem beim zweiten Stück, dass der Geiger die Zügel in der Hand hat, er treibts an, er zieht das Ganze, man hat das Gefühl, er spielt hier seine eigene Musik, wirkt manchmal fast wie improvisiert. Für meinen Geschmack hat der Geiger, die Geigerin ein bisschen viel Vibrato, das hat nichts mehr mit Atmen zutun, wirkt mehr wie ständige Anspannung. Aber sehr toll gespielt... JA: …die Mutter hat auch begeisterte Kritiken bekommen, auch, dass sie endlich wieder einmal Neue Musik aufgenommen hat.   

STEVE KUHN (*1938):
OCEAN IN THE SKY - S. Kuhn (“Remembering Tomorrow“, rec. 1995. S. Kuhn, p, David Finck, b, Joey Baron, dr. ECM-CD).
JA: Jetzt kommt der erste Pianist, denn aus Deiner Aufstellung von Favorites wurde ersichtlich, dass Du Koryphäen des Modern-Jazz-Pianos auch sehr schätzst… TP: Darf ich wissen, aus welchem Jahr das ist, aus den 90er Jahren? JA: Wieso? TP: Die Klangästhetik, habe ich das Gefühl... JA: … obwohl die hier gar nicht typisch ist für dieses Label. TP: Was mir bei allen Dreien sehr gefällt, ist diese Ostinatogeschichte, sind die durchgehenden Triller, die finde ich herrlich, auch wenn sie manchmal etwas holpern, aber das gefällt mir extrem, das finde super!

KHATIA BUNIATISHVILI (*1987):
SONATE IN B MINOR, 1. Satz - F. Liszt (“Franz Liszt I Khatia Buniatishvili”, rec. 2010. Sony Clasical-CD + DVD).
JA: Das neue „Wunderkind“ des Pianos; sie stellte sich in Zürich kürzlich in einem Konzert im Kaufleuten vor und Ende November ist sie beim renommierten “Lucerne Festival am Piano“ zu Gast.  TP: Sehr romantische Musik! Wunderbar gespielt, toll; mir gefällt halt dieses Schwelgerische, Romantische, Melodienselige und dann hats ja immer die zwei Welten, das ganz Schwere und dann kommt trotzdem die ganze Gewalt… Meine Welt und was mich interessiert, was ich suche und ich gerne mache, ist eine Mischung aus diesen zwei Welten, aus der Radikalität und der Melodienseligkeit. Ist das eine der “…vilis“? JA: Ja, es ist die junge georgische Pianistin Khatia Buniatishvili.

STÉPHANE GRAPELLI (1908-1997):
LOVER MAN - Davis/Ramirez, 1941 („Flamingo“, rec. 1995. S. Grapelli, viol., Michel Petrucciani, p, Gorge Mraz, b, Roy Haynes, dr. Dreyfus-CD).
TP: Ich glaube nicht, dass es Grapelli ist, könnte Venuti sein… JA: …wieso könnte es nicht Grapelli sein?   TP: …ist es doch Grapelli - dann muss es eine sehr späte Aufnahme sein… JA: …ca. zweieinhalb Jahre vor seinem Tod… TP: …wird eine seiner letzten Aufnahmen sein. Was mir hier sehr, sehr an seinem Sound gefällt, ist das Zerbrechliche, sein Vibrato ist unglaublich zerbrechlich, was seine Musik so gehaltvoll macht. Und es hat wieder untypische Grapelli-Sachen drin, aber das macht ihn ja auch wieder charmant, weil er am Ende des Lebens nicht mehr seine normalen Kapriolen zeigen muss. Es wird von der CD “Flamingo“ sein. Ich habe diese CD nicht, kenne aber das darauf enthaltene, unglaublich schöne Duo gleichen Titels mit Petrucciani.

STREICHQUARTETTE Teil 2 (neue Aufnahmen)
1.) ENDELION STRING QUARTET: Thomas Adés (*1971): ARCADIANA Op. 12, V: Et… (tango mortale) rec.1997. (“Adés: Anthology”. EMI-2CD).
2.) 3 STRING QUARTETS OF LONDON STEVE REICH ENSEMBLE: Steve Reich (*1936): TRIPPLE QUARTET, Movement III -1998, rec. 2011. (“Reich: Different Trains“. EMI-CD).
3.) ARDITTI QUARTET & EXPERIMENTALSTUDIO DES SWR: Georg Friedrich Haas (*1953): STREICHQAURTETT Nr. 7, 2011 - UA (“Lucerne Festival im Sommer“ 2011. DRS 2 / 2011).
TP: Alle Drei haben etwas Spannendes. Bei 3 haben mich zuerst das sehr Fragile, fast auseinander Fliegende mit diesen Flageoletttönen da oben und diese “fiesen“ Harmonien sehr beeindruckt. Schön das nah Aufgenommene, wo man das Atmen spürt und hört, was mir sehr gut gefällt.  Dann dieser Bienenschwarm, wie der kommt und geht und rumfliegt, wahnsinnig wie das Quartett das schafft, diese Homogenität hinzukriegen… JA: … dieser “Bienenschwarm“ wurde ergänzend vom Experimentalstudio des SWR erzeugt, wobei der Komponist die Elektronik auch „als mikrotonale Intonationshilfe einsetzt, als Verdoppelung von dem, was in den Instrumenten klingt, was dann mutiert, transformiert, transportiert und in vielfältiger Weise übereinander geschichtet wird (…)“, so im Programmheft und weiter: “Auf diese fixierte, gleichsam unangreifbare Schicht der Elektronik müssen die Musiker in einem vom Komponisten vorgegebenen Rahmen reagieren“. TP: Auf jeden Fall sehr ungewohnt und sehr toll gespielt. JA: Der Komponist heisst Georg Friedrich Haas, lehrt an der Hochschule für Musik der Musikakademie Basel und zählt zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Seine Spezialitäten sind u.a. Mikrointervallik, Panchromatik und spezielle Obertonreihen. Beim diesjährigen Lucerne Festival war er “composer-in-residence“. TP: 2 ist sehr rhythmisch, ich habe immer gern, wenn es rhythmische Muster gibt, die durchgehen, die nicht verkrampft sondern ganz natürlich kommen,  was ich hier als sehr charmant empfand. Ich habe jedoch das Gefühl, diese rhythmischen Wiederholungen seien nicht ultraperfekt gespielt, aber ich mag das, wenn es nicht verbissen wirkt, stehe extrem drauf. Zu 1: Ist das was Argentinisches, Südamerikanisches? JA: Nicht direkt, aber die Komposition hat den Untertitel “tango mortale“. TP: Was mir hier gefallen hat, sind die zwei Geigen, die fast den gleichen Sound gehabt haben, die gleiche Art zu spielen, wie aus einem Guss, konnte die fast nicht unterscheiden, was ich irritierend aber auch speziell fand.

AGUSTÍ FERNÁNDEZ (*1954):
ODYSSE – B. Guy*** (“Morning Glory + Live in New York“ ***, rec. 2009, Ausschnitt. A. Fernández, p, Barry Guy, b, Ramón Lopez, dr. Maya Recordings-2CD).
TP: Deftige Kost. Das Lustige ist, dass das eine der Aufnahmen ist , wenn man sie in den Player steckt - was vielleicht irgendwie klischiert klingt - man sich fragt, ist da irgendetwas kaputt, hat es irgendwo einen Wackelkontrakt…; dann habe ich aber gemerkt, es ist der virtuose, wilde Bass, wobei spannend ist, vor allem am Anfang, wie der Bass der ist, der alles bricht. Vom Klavier und Schlagzeug kam dann so etwas wie eine Klangwolke und der Bass hat dann das Ganze etwas aufgemischt und aufgerüttelt, und dann dachte ich, es ist der Einzige in diesem Trio, der spannend ist, aber dann plötzlich hat der Pianist übernommen und hat wahnsinnig viel gegeben; das hat mir grossen Eindruck gemacht, auch, dass der Schlagzeuger dann mit dem Pianisten mitgegangen ist, während der Bassist immer noch auf seinem “Störfaktor“ blieb – ist cool, gefällt mir. JA: Habe das Trio kürzlich im Theater am Gleis in Winterthur im Rahmen des “Maya Recordings Festival“ gehört, was für mich zu einem der herausragendsten und eindrücklichsten Musikerlebnisse des Jahres wurde.

LUCIANO BERIO (1925-2003):
SEQUENZA VIII FOR VIOLIN - L. Berio, 1976 (”Luciano Berio - Sequenzas I - XIV”, rec. 2000. Jasper Wood, viol. Naxos-3CD).
TP: Finde ich super, ist unglaublich toll gespielt, gefällt mir sehr, vor allem die vielen Doppelgriffe und die dabei erzeugten Schwingungen, mit denen hier experimentiert wird. Für mich könnten diese Passagen noch radikal viel länger sein, aber geiler Sound und die Attack… - extrem toll gespielt !  

BOBO STENSON TRIO (*1944):
SOUTH PRINT - B. Stenson (“Serenity“, rec. 1999. B. Stenson, p, Anders Jormin, b, Jon Christensen, dr. ECM-2CD).
TP: Das ist jetzt der typische ECM-Sound… Was mir hier sehr gefällt ist, dass alle Drei wirklich gleichberechtigt sind, die kommunizieren alle miteinander, keiner übt einen Job aus - sehr, sehr toll, auch kontrapunktisch. Ich nehme an, das ist Bobo. Und der Basssound ist Wahnsinn.

MAT MANERI (*1969):
PURE MODE - Matthew Shipp (“Trinity“, rec. 1999. Mat Maneri, violin, viola. ECM-CD). 
TP: Das pure Gegenteil von der Vibratogeschichte von Frau Mutter. Was ich hier super finde ist, dass er sehr lange auf dem Motiv bleibt im Gegensatz zu manchen modernen klassischen Stücken, wo ich vermisse, dass man länger bei einer Idee bleibt, denn die Geschichte ist oft noch lange nicht erzählt, man kann noch mehr erzählen, was mir hier sehr gefällt, und eben auch das Non-Vibrato, fast Sinustöne, die einem  entgegengeflogen kommen; auch das Kratzige ist sehr speziell und auch das abrupte Stoppen und dann wieder der Pfeil, der da geschossen kommt... Vermutlich ist das auf der Bratsche und improvisiert und es könnte Mat Maneri sein.

KEITH JARRETT (*1945):
IMPROVISATION (“Willisau Hotel Mohren Freitag, 30. März“, rec. 1973. Ausschnitt aus 57-minutigem Solo-Konzert. Privat-CD).
TP: Verstimmtes Piano, aber ich finds charmant. Für mich klingts nach 70-er-Jahre-Jarrett mit seinem damaligen Vokabular. Aber die Intensität und die Freiheit, die hat er immer noch - herrlich, Hut ab. Bin ein grosser Jarrett-Fan. Er ist für mich einer derjenigen, die wirklich frei spielen wie wenige.

ETHNISCHE EINFLÜSSE
1.) ABDU DAGHER & ENSEMBLE: Komposition und Improvisationen von A. Dagher. Festival Musik der Welt Basel, rec. 2001. Abdu Dagher, viol. (Privat-CD)
2.) LIBANESISCHES ENSEMBLE mit Solo-Geiger: LEICH YA  WILFI: “danses de l’orient“, rec. ca. 1960. (Duniaphon-LP).
3.) ARTICHIC ENSEMBLE: ÖREG BETYÁR … - M. Elek: “Soirée Tzigane“, rec. 1997. Ulrich Schmutz, viol., Karel Boeschoten, leader. (Syncoop-CD). 
4.) VLADIMIR KARPOV ENSEMBLE: KREUZBERG CUE CHEK: “Thracian Dance“, rec. 2006. (meta records-CD)
5.) SHANKAR: RAGAM-TANAM-PALLAVI: “Who’s To Know – Indian Classical Music”, rec. 1980. Shankar, Double Violin, Tamboura,  Zakir Hussain, Tabla, U. K. Sivaraman, Mridangam, V. Lakshminarayana, Conductor, tala keeping (ECM-LP).
TP: (Zu 5:) Ui, Hilfe… furchtbarer Sound - irgendeine elektronische Geige mit einem unsäglichen, ekligen Hall. Aber was er spielt ist unglaublich, auch rhythmisch, mit spannender Bogentechnik, wobei mich vor allem seine Bogenhand interessiert, wie er das unglaublich schnell die ganze Zeit durchziehen kann, ohne Sehnenscheidenentzündung. War das Shankar?   JA: … ja, mit seiner speziellen „Double Violin“. TP: … und einem Sound, den ich wirklich nicht ertrage, aber ein Wahnsinnsgeiger. Bei 4 ist der jazzige Einfluss hübsch, der Sound der Geige ist sehr speziell, klang wie ein Duduk, ein rumänisches Blasinstrument ... JA: …es war eine Gudulka, ein meistens dreisaitiges Streichinstrument mit 8 bis 10 Resonanzsaiten aus dem bulgarischen Thrakien. TP: Was mir hier gefällt ist die Art, wie der Geiger mit dem Bogen spielt, mit relativ viel Druck auf der Saite, wie ich das beim Jazz auch viel mache, was wohl von den Bläsern kommt, die man nachempfindet, zum Beispiel bei der Trompete, die ja auch immer einen permanenten Druck hat. Zu 3: Die Geige hat mich extrem an Grapelli erinnert, der es natürlich nicht ist. Aber die Ausdrucksweise und die Glissandi sind herrlich und das Ensemble hervorragend, mit diesen Rubatogeschichten wie aus einem Guss. Klingt sehr ungarisch. In Nr. 2 ist der Sound auch sehr speziell, was überhaupt das Merkmal der verschiedenen Beispiele ist. Hier ist der Sound sax-ähnlich, und spannend natürlich auch die ultraschnellen, krassen Verzierungen und das typische Frage-Antwort-Spiel dieser arabischen Musik. Bei der Nr. 1 hat mir neben der Nr. 4 die Geige am besten gefallen, weil sie etwas sehr Intimes, ein bisschen Introvertiertes hatte… JA: … der Geiger ist über siebzig und zählt zu den bedeutendsten Musikern Ägyptens… TP: … ist auch sehr bluesig und interessant natürlich die ganze Vierteltongeschichte, die man auch bei 2 gehört hat und die schon sehr spannend ist, ein Thema, das ich für mich selbst aufgreifen möchte, mit den dabei entstehenden unglaublichen Stimmungen.     

BILL EVANS TRIO (1929-1980):
AUTUMN LEAVES - Kosmo, 1947 (“Portrait in Jazz“, rec. 1959. B. Evans, p, Scott LaFaro, b, Paul Motian, dr. (Riverside-LP).
TP: Mir gefällt total diese perlige Phrasierung, prickelnd, sehr verspielt und trotzdem cool, sehr hippes Material, auch harmonisch, muss Bill Evans sein… JA: … mit Scott LaFaro… TP: … das hört man auch, unglaublich wie er da die Kontrapunkte setzt… JA: … und mit Paul Motian am Schlagzeug, dessen armenischer Name zu seinem Leidwesen immer falsch ausgesprochen wird (richtig wäre „tian“, die typische Endung vieler armenischer Namen, die letzten drei Buchstaben also einzeln ausgesprochen).  

Tobias, danke für Deinen Besuch bei mir.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 6 / 2011 / Nr. 1 / 2012
Fotos © Johannes Anders

 

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