Johannes Anders
Musik - Journalist

Die Radio-Archive geben ihre Jazzschätze preis

Das Radio als Pionier der Jazz-Aufzeichnung: die erstaunlichen «Swiss
Radio Days Jazz Series» gibt es jetzt auf Compact Discs.

Art BlakeyIn den Bandarchiven europäischer Rundfunkanstalten schlummern neben all den Studioproduktionen zahlreiche Konzertmitschnitte historisch bedeutsamer Jazzgrössen - Aufnahmen, die nicht selten zum Besten zählen, was von den jeweiligen Musikern und Bands je aufgezeichnet wurde. Zum Beispiel jenes grandiose Konzert des klassischen John Coltrane Quartets mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones, das vom Süddeutschen Rundfunk 1963 live in der Stuttgarter Liederhalle aufgenommen wurde und danach drei Jahrzehnte lang im Archiv verschwand.
Nach wie vor scheitern jedoch Veröffentlichungen auf offiziellen Tonträgern an zumeist unüberwindlich scheinenden urheberrechtlichen Hürden, weil allfällige Rechtsinhaber oder Nachlassverwalter oft sehr schwer oder kaum mehr aufzufinden sind oder horrende Summen verlangen. Sogenannte Bootleg-Firmen profitieren von dieser Situation: Sie bringen unter obskuren Etiketten unlizensierte Mitschnitte heraus, deren genaue Quellen im dunkeln bleiben. So erschien zum Beispiel letztes Jahr eine CD unter dem Titel «The Miles Davis Quintet Live in Zurich 1960», ein Konzert, das am 8. April 1960 tatsächlich im Zürcher Kongresshaus stattfand und damals vom Schweizer Radio aufgenommen wurde. Wie so manch andere derartige Raubedition gelangte auch diese in Dänemark produzierte CD offenbar problemlos in die offiziellen Schweizer Vertriebskanäle.

Reiche Jazzschätze heben
Ganz anders geht der Schweizer Schallplattenproduzent und Schlagzeuger Peter Schmidlin zu Werke. Schon für die ersten drei Editionen seines Mitte der achtziger Jahre gegründeten Labels «TCB» (Take care business), die unter dem Motto «Swiss Radio Jazz Live Concert Series» Höhepunkte aus den 111 «Jazz Live»-Konzerten des Radiostudios Zürich präsentierten - mit CH-Jazzern und internationalen Grössen -, machte er erste archivtechnische und urheberrechtliche Erfahrungen.
Seriös packte er auch sein neues, letztes Jahr gestartetes Projekt «Swiss Radio Days Jazz Series» an, mit Schätzen aus den Archiven der Schweizer Radios. Komplizierter ist das Verfahren diesmal jedoch deshalb, weil er nicht nur mit den verschiedenen Studios im Tessin, im Welschland und in der deutschen Schweiz verhandeln muss, sondern auch mit amerikanischen Rechtsvertretern bereits verstorbener Stars. Einen vielversprechenden Auftakt der neuen Reihe «Green Line» stellte die im Sommer letzten Jahres herausgebrachte CD «Vol. 1» dar, mitreissende Live-Aufnahmen von Radio Suisse Romande aus dem Lausanner Théâtre de Beaulieu vom 27. Juni 1960 mit der Quincy Jones Big Band. Benny Bailey war damals der prominente Satzführer der Trompeten, Phil Woods derjenige der Holzbläser.

Radioarchiv  Cannonballs Message
Unter den diversen Aufnahmen der Band aus dieser Zeit gehören die vorliegenden zu den stärksten. Und die Aufnahmetechnik von Radio Suisse Romande war qualitativ so gelungen und das Bandmaterial in so gutem Zustand, dass sich nachträgliche elektronische Retuschen erübrigten! Ähnliches lässt sich auch über Vol. 2 mit Art Blakey's Jazz Messengers sagen - Aufnahmen, die ebenfalls 1960 im Théâtre de Beaulieu entstanden. Mit von der Partie waren damals Lee Morgan, Wayne Shorter, Bobby Timmons, Jymie Merritt und natürlich der Meister selbst. Auch diejenigen, die Blakeys Hardbop und all die berühmten Titel bestens kennen, werden von der Frische, Orginalität und Inspiriertheit der Spieler überrascht sein und den neuen Wind spüren, den Saxophonist Wayne Shorter damals hineinbrachte. Man höre sich nur etwa die unglaublichen Trompetenchorusse von Lee Morgan in Bobby Timmons' «Dat Dere» an.

Exzentrische Soli
Auch Vol. 3 der TCB-«Swiss Radio Days Jazz Series» ist weit mehr als blosse Nostalgie, denn was das damals viel gehörte und in Jazzkreisen äusserst populäre Cannonball Adderley Sextett 1963 im Auditorio RSI in Lugano zum besten gab, ist sensationell, mit unerhörten, ausgefallenen, ja zuweilen exzentrischen Soli der Mitspieler - Namen übrigens, die bis heute nichts von ihrem guten Klang eingebüsst haben: neben Chef Cannonball und seinen launigen Statements - «Know what I mean?» - mit Bruder Nat Adderley, Yusef Lateef, Joe Zawinul, Sam Jones und Louis Hayes und all den Supertiteln wie «Work Song», «Jive Samba», «Dizzy's Business» usw.; die stärkste Formation, die Cannonball je hatte. Leider fällt ein kleiner Wermutstropfen in diese ansonsten explosive Fuhr, hatte doch der Flügel im Saal des RSI-Studios offensichtlich schon länger keinen Klavierstimmer mehr gesehen.
So attraktiv, wie sie begonnen hat, führt Peter Schmidlin seine Reihe mit Vol.4 weiter: mit mitreissenden Aufnahmen des explosiven Thad-Jones-Mel-Lewis-Orchestra, der wohl innovativsten und wichtigsten Big Band der sechziger und siebziger Jahre, live aufgezeichnet am 11. September 1969 im Stadtcasino Basel. Tonmeister und Stereophonie-Pionier Jürg Jecklin erinnert sich noch sehr gut an diesen spannenden Abend: Im ersten Teil dieses Doppelkonzerts spielte die Clarke-Boland-Big-Band. Von den Thad-Jones-Mel-Lewis-Leuten derweil keine Spur. Schliesslich traf der Bus doch noch ein, und Konzertteil zwei konnte um etwa 23 Uhr beginnen, nachdem sich im ausverkauften Haus schon allerhand Unruhe breitgemacht hatte. Nach einem langen Pianotrio-Intro, mit dem das Publikum ganz schön auf die Folter gespannt wurde, setzte schliesslich die Band ein, mit einer Power und Explosivität, von der Jürg Jecklin noch heute begeistert ist: «Das sensationellste Jazzkonzert meines Lebens und eines der wichtigsten zehn Konzerte überhaupt, die E-Musik inbegriffen.»

Ella FitzgeraldOhne Soundcheck und illegal auf Stero
Die von Roman Flury für Radio Basel produzierten Aufnahmen entstanden zwangsläufig ohne Soundcheck und wurden entgegen einer Weisung der Radiodirektion nicht mono, sondern bereits stereophon aufgezeichnet - Mikrophone, Mischpult und Zweikanal-Bandmaschine noch in solider Röhrentechnik, wie Jecklin unterstreicht. Dass diese «illegale Aktion» trotz der widrigen Umstände zu einem höchst gelungenen Ergebnis führte, mit einer Transparenz, Klangdichte und Unmittelbarkeit, die auch heutige so und verwöhnte Ohren fasziniert, kann auf der CD nacherlebt werden. 
 Die Kompositionen und Arrangements, hauptsächlich aus der Feder von Co-Leader und Trompeter Thad Jones, «sind Wunderwerke ideenfunkelnder Überraschungen, voller Kontraste und unerwarteter Wendungen, die bei allem Traditionsbewusstsein dem Big-Band-Mainstream harmonisch, rhythmisch und auch technisch neue Welten erschlossen haben», schrieb Joachim Ernst Berendt einmal über die Band. Auch beim Basler Konzert setzte sich das Orchester aus einer Elite der besten New Yorker Musiker zusammen, mit Solisten wie Joe Henderson, Eddie Daniels, Pepper Adams Jimmy Knepper, Richard Williams, Roland Hanna, Richard Davis und natürlich Thad Jones und Co-Leader und Drummer Mel Lewis. Und fast selbstverständlich sind Super-Hits der Band wie etwa das berühmte «Don't Get Sassy» mit dabei. Was wird wohl mit den nächsten Editionen dieser Reihe noch alles zutage gefördert? Wie auch immer, noch viele grosse Konzerte warten in den Radioarchiven auf ihre Wiederentdeckung – Duke Ellington, Count Basie, Nat King Cole, George Russel, Miles Davis, Herbie Hancock, Max Roach ...

Johannes Anders

Swiss Radio Days Jazz Series:
· Vol. 1: The Quincy Jones Big Band, Lausanne 1960. TCB 02012
· Vol. 2: Art Blakey's Jazz Messengers, Lausanne 1960, Part 1. TCB 02022
· Vol. 3: Cannonball Adderley Sextett, Lugano 1963. TCB 02032
· Vol. 4: Thad Jones - Mel Lewis Orchestra, Basel 1969. TCB 02042

BaZ vom 12.12.1995, Ressort: Feuilleton, Seite 37
© COPYRIGHT Information + Dokumentation Basler Zeitung 

Radioarchiv

Ella Fitzgerald und Johannes Anders

Ella Fitzgerald in Freddie Brocksiepers Schwabinger Restaurant Reitschule,
München am 16. Januar 1960.
Der Fotograf J.A. hier nicht in Action sondern als Zuhörer (Pfeil).

Foto: C    Hunter, Münchner Illustrierte, 5.3.1960


Ergänzung 2006: Inzwischen sind weitere CDs der Reihe erschienen: 

· Vol. 5:   Woody Shaw – Louis Hayes Quintet, Lausanne 1977. TCB 02052
· Vol. 6:   Art Blakey's Jazz Messengers, Lausanne 1960, Part 2. TCB 02062
· Vol. 7:   Buck Clayton All Stars, Basel 1961. TCB 02072
· Vol. 8:   Clark Terry – Chris Woods Quintet, Lucerne 1978. TCB 02082
· Vol. 9:   Gerry Mulligan Quartet, Zürich 1962. TCB 02092
· Vol. 10: Ben Webster – Dexter Gordon, Baden 1972. TCB 02102
· Vol. 11: Don Redman Orchestra, Geneva 1946. TCB 02112
· Vol. 12  Gerry Mulligan Concert Jazz Bigband, feat Zoot Sims, Basel 1960. TCB 02122
· Vol. 13  Coleman Hawkins, feat. Kenny Clarke, Lausanne 1949. TCB 02132
· Vol. 14  Benny Goodman, Lausanne 1950. TCB 04142
· Vol. 15  Oscar Peterson / Ella Fitzgerald JATP, Lausanne 1953. TCB 02152

Fotos:  © Johannes Anders
1   Art Blakey 1960
2   Art Blakey 1960
3   Lee Morgan 1960
4   Jymie Merritt, Wayne Shorter, Lee Morgan, Art Blakey 1960
5   Gerry Mulligan Quartet + Bob Brookmeyer 1960
6   Gerry Mulligan 1960
7   Ella Fitzgerald 1960
8   Ella Fitzgerald 1960
9   Benny Bailey 1961
10 Zoot Sims 1958
11 Thad Jones 1956
12 Benny Goodman 1958
13 Benny Goodman mit Red Norvo 1958



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