Johannes Anders
Musik - Journalist

Donaueschinger Musiktage 2003:

Faszinierende Höhepunkte - mit Elektronik 

Rund 10'000 Besucher an 12 Spielorten, 18 Uraufführungen, 10 Konzerte, sowie diverse Installationen, unter Beteiligung von Künstlern aus neun Nationen - da bleibt dem Berichterstatter in diesem Rahmen nur noch, einige wenige Höhepunkte herauszupflücken.

 

Armin Köhler, SWR-Musikredakteur und Festivalleiter, betonte am Schluss der Musiktage, dass die schon in den letzten Jahren festgestellte Tendenz, Tabus aufzubrechen und „das Kästchendenken septisch voneinander getrennter Sparten zunehmend aufzulösen“, diesmal noch stärker zur Geltung kam. - Eines dieser Sparten sprengenden und gleichzeitig herausragenden Ereignisse war die rund 20 Minuten dauernde Komposition „Rad für zwei Keyboards“ (2003) von Enno Poppe (*1969). „Rad“ ist,  improvisatorisch wie strukturell komplex, eine „Art systematische Zusammenfassung meiner jahrelangen Arbeit mit Mikrointervallen“, so der Komponist. Spannend seine Erläuterungen zu den zwei digitalen Keyboards: Insgesamt seien hundert verschiedene Skalen verfügbar, von denen manche nur für wenige Sekunden verwendet werden. Durch das ständige digitale Umstimmen wird ein nahezu unerschöpflicher Tonvorrat verfügbar, mit temperierten Skalen mit Schrittgrössen zwischen 1.66 und 0.1 Halbtönen, darunter auch Skalen mit 0.96-Halbtönen, sowie Skalen mit gleichen Frequenzabständen, die nach oben immer enger werden. Weiter gibt es programmierte Akkordfolgen, sowie Kombinationen verschiedener Skalen, sodass jeder Taste mehrere Noten zugeordnet sind. Als Klangmaterial wurden ausschliesslich Klavierklänge verarbeitet. Die Anzahl der klingenden Töne wächst im Quadrat zu den angeschlagenen Tasten; ein mit allen Fingern gespielter, zehntöniger Akkord erzeugt also hundert Töne. Ergebnis: Ein Klangeindruck, der gewaltig war, ein an- und abschwellender, oszillierender Vulkan mit ungewohnten, mikrotonalen und mikrointervallischen Tontrauben, Klangballungen und Energiefeldern, von den zwei Pianisten mit einer rauschhaft-fluoreszierenden Dynamik gespielt, die einem spontan unter die Haut ging.

Klangkosmos und Electro-Acoustic-Inferno

Ein weiterer Höhepunkt war die „SWR NOWJazz Session“ mit dem den Abend eröffnenden Electronic Duo erikm und Christian Fernnesz, die quasi zelebrierten, welch fluktuierende Klang-, Geräusch- und Strukturgewebe man mit zwei entsprechend vorbereiteten, blitzschnell reagierenden Geräten kreieren, wie kommunikativ man mit dem elektronischen Material improvisieren kann. Ein ganz neuer, metamorphosierend vielschichtiger Klangkosmos tat sich hier auf – ein faszinierendes, einzigartiges Hörerlebnis. Dann kam Evan Parker’s Electro-Acoustic Ensemble: In der Mitte der Bühne das vital und expressiv agierende und improvisierende Acoustic Trio mit Parker, ts,ss, Barry Guy, b, und Paul Lytton, perc & live electronics, das einerseits von Parkers Electro Ensemble mit drei für live electronics und sound processing zuständigen Notebook-„Spielern“ und andererseits vom gastweise integrierten Electronic Duo „Furt“ mit Richard Barnett und Paul Obermayer umrahmt wurde. Spannend das in langen Sequenzen angelegte, aufregende Wechselspiel zwischen dem Energie sprühenden Free Jazz des Acoustic Trio und den auf ihren Notebooks ebenfalls improvisierenden Elektronikern. Sie kommentierten die Musik des Parker-Trios nicht nur elektronisch sondern nahmen sie auch auf, verwandelten sie und spielten sie wieder zu, was zu einem erregend kumulativen, nie zuvor in dieser Ereignisdichte und Explosivität erlebten, auch körperlich eindringlichen Hör- und Emotions-Parcours wurde.

Johannes Anders



© JAZZ 'N' MORE 6/2003
© Foto: Hans Kumpf    



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