Johannes Anders
Musik - Journalist

NIKOLAUS BÄRTSCH

Text von Johannes Anders


Nikolaus BaertschGeboren am 3.8.1971 in Zürich. Lebt in Zürich und Berlin. Unterricht in Jazzklavier und Schlagzeug ab dem 8. Lebensjahr. 1997 Klavierdiplom an der Musikhochschule Zürich. 1998-2001 Studium der Philosophie, Linguistik und Musikwissenschaft an der Uni Zürich. Arbeitet freischaffend als Pianist, Komponist & Theatermusiker stets an seiner RITUAL GROOVE MUSIC. Leader der Gruppe MOBILE, die Groovezeremonien über mehrere Stunden mit spezieller Raumgestaltungen verbindet. Leader des Zenfunk-Quartetts RONIN (mit Kaspar Rast, Björn Meyer & Andi Pupato). Daneben Entwicklung des Soloprojektes "Hishiryo" für präpariertes Klavier und Perkussion (ab 2001). Nik Bärtschs Aesthetik folgt dem Ziel, mit minimalen Mitteln maximale
Wirkung zu erzielen und durch Askese Ekstase zu erreichen. Er konzipierte, produzierte & komponierte die über drei Jahre laufende MOBILE BLUE-Trilogie (2000: "AREA BLUE - ein 36 Stunden Musikritual", 2001: "AQUA BLUE - a ritual groove music performance", 2002: "MU LUE" - 36 Stunden Grooveritual) und schrieb Theatermusik für verschiedene deutschsprachige Bühnen. Daneben arbeitet er mit dem Berner Bläser Don Li an dessen TONUS-MUSIC und hat einen Lehrauftrag für "Praktische Ästhetik" an der Musikhochschule Zürich/Winterthur. 1999 erhielt er den Förderungspreis der UBS-Kulturstiftung und soeben eine der kulturellen Auszeichnungen der Stadt Zürich (Werkjahr).


THE AZUMA KABUKI MUSICIANS:

NAGARE ( „Original music and arrangements from older classics - Shiko Ozaki - New Samisen Music“. Columbia-LP).

NB: Ich mag diesen perkussiven Klang, diese Rohheit, diese tänzerische Ekstase sehr, weiss aber nicht, was diese Musik für eine Funktion hat. JA: Es ist Kabuki-Musik... NB: ... eine populäre japanische Theaterart... 


LENNIE TRISTANO:

C MINOR COMPLEX („The New Tristano“, unaccompanied piano solos, rec. 1962. Atlantic-LP).

NB: (reagiert sofort) Das ist der Lennie, sensationell! Da gibt’s viele Sachen in dieser Musik, die heute noch aktuell sind, vor allem im Klang, aber auch in der Mikrophrasierung, die absolut stimmt, und in der attack, in den rhythmischen Verschiebungen und in der Polyphonie - einfach phantastisch. Und das Konzept, kein Thema mehr zu spielen, das ganz andere Dramaturgien und Formen ergibt. Lennie hat das Klavier auch in den Lagen sehr genau ausgelotet und hat eine ganz eigene, nicht nur vom schwarzen Jazz herkommende Sprache gefunden, mit dieser Mischung aus Coolness und körperlich-hippem Drive... 


IGOR STRAWINSKY - LE SACRE DU PRINTEMPS (1913):

DANSE SACRALE

1.  Columbia Symphony Orchestra, Igor Strawinsky (1960, Philips-LP)

2.  Orchestre National de la R.T.F. Paris, Pierre Boulez (1965, Concert Hall-LP)

3.  Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti (1974, Decca-CD)

4.  Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1976, DG-LP)

5.  Philharmonia Orchestra, Iliahu Inbal (1989, Teldec-CD)

6.  New York Philharmonic, Zubin Mehta (1991, Teldec-CD)

7.  Berliner Philharmoniker, Pierre Boulez (2002, Lucerne Festival Sommer, SR DRS)

 

Nikolaus Baertsch2NB: (Orchester und Dirigenten wurden jeweils im Laufe der Kommentare bekanntgegeben. Zu 1.:) Ein Stück, das immer noch extrem wichtig und noch nicht ausgeschöpft ist..., diese modularen Taktverfahren, es ist immer ähnlich aber nie gleich. Rhythmisch ist diese Aufnahme gut, aber nicht immer ganz sec..., aber diese kompakten Streicher mit ihrer dunklen Schärfe, die unglaublich gut zusammen sind, das mag ich sehr. Strawinsky hat sich sicher über den Pauker aufgeregt, aber diese schönen Bässe, fast jazzmässig... (Zu 2.:) Das wirkt rhythmisch etwas verwackelt..., ich habe ja eine besondere Affinität zum Rhythmischen, zum Groove..., und wenn das fehlt, hat das vor allem mit der Körperlichkeit des Dirigenten zutun, also hier mit Boulez. Deshalb liebe ich die Aufnahme von Abbado mit den Londonern... Es muss einfach grooven...  Es gibt halt nicht viele klassische Dirigenten, die auf der rhythmischen Höhe eines Strawinsky sind... (Zu 3.) Sehr präzis und transparent, aber es lebt für mich nicht richtig und der lange Hallraum beschneidet etwas die perkussive attack; das Klangliche ist ja immer ein ganz wichtiges Kritierium, vor allem auch für mich, z.B. wie ein Flügel klingt usw. (Zu 4.:) Klanglich und rhythmisch packt mich das nicht, wirkt einerseits grell und klobig, andererseits veredelt..., für mich nicht so interessant. (Zu 5.:) ...eine „geile“ Aufnahme, spannender Orchesterklang, der phrasiert toll, tänzerisch, zupackend, roh..., das groovt, hat eine aufgeräumte Klarheit, ist sec...(Nach Bekanntgabe) Es sind halt nicht immer die Grossen... (Zu 6.:) Nicht schlecht, aber bei Inbal ist das geerdeter..., der Beat wirkt immer etwas geschoben, ist rhythisch zu weit vorn, ist also eigentlich das Gegenteil von einem spannungsseigernden „laid back“-Spiel - ich kann mich körperlich-tänzerisch nicht richtig in den Groove reinbewegen, und auch die Phrasierung des Orchesters ist nicht packend... (Zu 7.:) Die Aufnahme hat schon Kraft aber rhythmisch finde ich sie etwas schlapp, wenn wir auch hier wie vorher den Focus aufs Rhythmische setzen. Wer ists? Wieder Boulez – da hört man das Gleiche wie bei der alten Aufnahme, er hat sich in Bezug aufs Rhythmische in all den Jahren wenig geändert, es groovt für mich einfach nicht. Wenn man die Musik einmal als tänzerisches Wesen ansieht – und es handelt sich hier ja um einen „Danse sacrale – dann hat Boulez einen komischen Körper... Fazit: Natürlich hat jede der Aufnahmen interessante Teile, aber unter dem Aspekt des Rhytmischen, des Groove, steht für mich nach wie vor Inbal an erster Stelle, Strawinsky käme an zweiter und Boulez am Schluss.


RAN BLAKE:

BUT NOT FOR ME („That Certain Feeling“ – George Gershwin Songbook, rec. 1990, R.B. p-solo. hatART-CD).

NB: Ist das Ran Blake?– eine interessante Wiederbegegnung nach Jahren. Ich mochte ihn damals sehr, weil es eine Mischung ist zwischen einer modernen E-Musik-Behandlung des Klaviers und Versatzstücken des Jazz. Heute empfinde ich das fast etwas zu ausgeklügelt...


IANNIS XENAKIS (1922-2001):

JONCHAIES/1977 („orchestral works & chamber music“, Auszug, rec.1981, Nouvel Orchestre Philharmonique, Gilbert Amy. col legno-CD).

NB: Ein sehr spannendes Stück; es hat eine Konsequenz und befolgt einen ganz eigenen Code. Man taucht in Klangbäder ein und muss Spuren folgen, die einen immer wieder woanders hinführen...; es hat Energie, Power, aber auch eine gewisse Kauzigkeit, die ich sehr mag. Ein gutes Stück – da bleibe ich jede Sekunde dran – intelligengte Musik, gleichzeitig roh und direkt...


AKI TAKASE:

SCHWARZE TASTEN („Nine Fragments – DEMPA“, rec.2001, A.T., p, china koto, live-electr., Alexsander Kolkowski, viol, Grammoph., electr., Tony Buck, dr, live-electr. LEO-CD).

NB: ...und auch hier gibt es Klangbeziehungen, die interessant sind. Es ist aber mittlerweile ein Free-Genre, das bedient wird wie etwa Bebop, das ich hier aber gut finde, nicht sensationell vom innovativen Potential her, sodass man was lernen könnte, aber sehr hochstehend in dem, was passiert - und die packen wenigstens zu...


KARLHEINZ STOCKHAUSEN (1928):

MANTRA/1970 („Mantra“, Teil 2, Auszug, rec. 1971, Alfons und Aloys Kontrasky. Piano + Ringmudulatoren.  DG-LP).

NB: Piano mit Elektronik..., klingt phantastisch, sehr spannende Klänge -  Konsequenz in der Form, eigenartige Bizarrerie – gefällt mir sehr.


TOM JOHNSON (*1939):

STUDY/1994 („Musik für Player Piano/s“, rec. Donaueschinger Musiktage 1994. col legno-3CD).

NB: Ist das Nancarrow, nein?, aha, Tom Johnson – kenne ich auch... Mir gefällt sehr, wenn ein Stück eine einfache Anlage hat, dann aber trotzdem Komplexität entsteht. Und auch im Klang ist das überzeugend und spannend zu verfolgen – auch, welche klanglichen Möglichkeiten ein Player Piano* hat... (* Player Piano = selbstspielendes Klavier.)


ANDREAS BICK (*1964):

WINDSCAPES (Karl-Sczuka-Förderpreis für akustische Spielformen - Hörspiel als Radiokunst, Donaueschinger Musiktage 2002, Auszug., rec. Deutschlandradio Berlin 2001. SWR-CD).

NB: Sehr schön - Musik, Klänge, Geräusche in der Stofflichkeit wie eine Landschaft, wie Natur..., berührt mich sehr, umso mehr, weil das Elektronik ist, eingesetzt mit einem sehr hohen strukturellen Bewusstsein, mit einer rohen, erdigen Klanglichgkeit...


HANS KOCH:

SEMOLIA („Uluru“, rec. 1989,  Hans Koch, ss-solo. Intakt-CD).

NB: ...entführt mich wieder gut, gefällt mir sehr, auch, weil es in der Anordnung ganz klar ist, die Klanglichkeit des Instruments über das Normale, Bekannte hinausführt, nicht in eine Melodik verfällt, sondern in ein Fluoreszieren, mit einem klaren Bild und Klang... Wer ists? Hans Koch – super; ich finde ihn einen Mann, der total zu dem steht, was er mag und das hört man; er spielt dort, wo sein Herz und sein Geist ist und das kommt rüber!


STEVE REICH (*1936):

PIANO PHASE/1967 („Early Works“, rec. 1986, Auszug, Nurit Tilles and  Edmund Nieman, pianos. Nonesuch-LP).

NB: (reagiert sofort:)...alles klar, „Piano Phase“ von Reich. Auch dies von der Anlage her ein ganz klares Stück. Das Wichtigste ist aber für mich, dass daraus eine Klanglichkeit, Stimmung, eine akustische Landschaft entsteht, die einfach überzeugt, dass der Geist und die intellektuelle Arbeit, die ein Stück generieren, mit dem Klang übereinstimmen. Das klassische und überzeugende Beispiel für ein Pattern-Stück - für mich eines der wichtigsten Stücke überhaupt.


MILES DAVIS GROUP:

SPANISH KEY („Bitches Brew“, rec. 1969, Auszug. CBS-2LP).

NB: ...ist natürlich der Beginn von all den Groove-Ambient-Sachen, obwohl mir Miles‘ „Decoy“ eigentlich lieber ist, ist mir das hier auch sehr nahe und schon ganz wichtig, vor allem, weil es groovt – mit dem Dunklen, Abgründigen darin, auch wenn es dazwischen bizarre Ambient-Landschaften hat...


WOLFGANG MITTERER (*1958):

KONZERT FÜR KLAVIER, ORCHESTER UND ELECTRONICS/2001 („Donaueschinger Musiktage 2001“, Auszug, SWR-Sinfonieorchester, J.Kalitzke, Thomas Larcher, p, Experimentalstudio der H.Strobel-Stiftung des SWR. col legno-2CD).

NB: ...ein gutes Stück, sehr überzeugend, auch in der Anlage Klavier, Orchester, Elektronik..., nicht mit den bekannten Gesten Neuer Musik, sondern modern und aktuell - ein Beitrag, mit neuen Mischungen und Strukturen die Musik weiter zu entwickeln, von dem man viel lernen kann...


POLWECHSEL:

TOASTER („Polwechsel 2“, Auszug, rec. 1998, John Butcher, sax, Burkhard Stangl, g, Michael Moser, vc, g, Werner Dafeldecker, b, g, electr. hat[now]ART-CD).

NB: Das ist wieder eine Anlage, die einfach ist - und unnarzistisch, es geht um eine bestimmte Klanglichkeit, um ein bestimmtes Konzept, das mich überzeugt, das ich mag, dieses Unprätentiöse... Was ich wichtig finde ist, dass die Instrumente sich entkörperlichen, es nur noch um den Sound geht, ego-los, mit Bildern, Klängen, eigenen Landschaften...


FEIGENWINTER/OESTER/PFAMMATTER:

AU PRIVAVE („Because You Knew“, rec. 2002, EmArcy-CD).

NB: Jarrett ..., nein, nein! Es ist Hans! – wurde mir gleich bei der zweiten Linie klar, wo die Polyphonie kam – super, super! – ist der Beweis, dass man zu einem klassischen Parker-Tune immer noch was zu sagen haben kann. Das ist auf der Höhe der Zeit des Pianos – es ist Polyphonie drin... In der Entwicklung der Linien steht ein absolut klarer Geist dahinter, gleichzeitig ist es total hip, aber auch eigenständig phrasiert, nicht epigonal... Ich hör ja nicht mehr viel „traditionellen“ Jazz, aber das hier ist spannend zu verfolgen, auch, weil das Piano hier einen Schritt weitergeführt wird, in seiner Polyphonie absolut sinnvoll... Da gibts auch international wenige, die das noch können – eine absolute Top-Platte, eigenständig, unprätentiös, sec..., grösste Freiheit durch Beschränkung, mit extremem strukturellem Bewusstsein – auf einem sehr hohen musikalischen, handwerklichen und bewusstseinsmässigen Level – eine Spitzenplatte, sensationell. Die kauf ich mir!. 


Nik Bärtsch, herzlichen Dank fürs Mitmachen.




 © JAZZ 'N' MORE Nr. 6/2002
Fotos: © Peewee Windmüller



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